Review: Emerald Split EP von PSYCHONAUT und SÂVER– oder wie Metal vom Anthropozän kündet
Auf dem ersten Blick denkt man sich, huch eine EP mit nur zwei Songs?! Doch diese sind epische 16:30 Minuten beziehungsweise 19:05 Minuten lang, so wie es in den Subgenres Post Metal und Progressive Metal gerne üblich ist! Und keine einzige Minute davon wird langweilig. In fünf sehr unterschiedlichen Parts, die aber doch besser in dieser in einander fließenden Form eines einzelnen Tracks denn als einzelne Lieder zur Geltung kommen, passiert in Psychonauts „The Great Realisation“ musikalisch sehr viel. Behutsam bauen sie die Dramatik auf, zunächst auf stark verhallten akustischen Instrumenten, mit dem an einen Herzschlag erinnernden Schlagzeug setzen dann peu à peu auch die E-Gitarren und Bass ein. Gesanglich bleiben Psychonaut zunächst im Vordergrund im Klargesang, in langgezogenen, hymnischen Melodien besingen sie die „Great Source“ vor der man sich verbeugen soll. Im Hintergrund hören wir aber schon heisere Screams, die auf eine drohende Gefahr hinweisen. Immer angespannter wird die Musik, dichter der Klangteppich. „The Great Realisation“ ist nicht nur in Bezug auf die Länge, sondern auch in Bezug auf die Komplexität der Komposition das Größte, was Psychonaut bisher geschrieben haben. Auch lohnt es sich, mal in die tiefere Bedeutung der Lyrics zu schauen, denn Psychonaut beziehen sich gerne auf philosophische Fragen unserer Zeit. Die belgische Band Psychonaut und ihre norwegischen Kollegen von Sâver nehmen uns auf ihrer gemeinsamen EP Emerald auf eine musikalische Entdeckungsreise in der es vor allem darum geht, die menschliche Existenz zu ergründen. In ihrem Song „The Great Realisation“ erzählen Psychonaut in fünf ineinandergreifenden Songparts die Erkenntnis des Menschen, dass seine Spezies den Planeten an den Punkt führt, an dem dieser für uns nicht mehr bewohnbar sein wird. Hier beziehen sich einerseits auf die Struktur klassischer Tragödien nach Gustav Freytag, andererseits auf die aktuelle Anthropozän-Debatte. Nach Freytag macht eine gute Tragödie aus, dass zuerst die Figuren und Beziehungen, die im Hintergrund liegenden Konflikte vorgestellt. Diese Konflikte spitzen sich zum Höhepunkt zu, nach einer scheinbaren Lösung und Entspannung der Lage kommt es schließlich zur Katastrophe. Eine Struktur, die so gut geeignet ist, tragische Geschichten zu erzählen, dass sie sich in die abendländische Denke tief eingegraben hat. Jede GZSZ-Intrige läuft so ab, jede Staffel von The Walking Dead, und auch in im zeitgenössischen Metal finden wir die fünf Akte, so ist auch das Opus „The Greatest Show On Earth“ von Nightwish so aufgebaut. Und auch dieser Song der Finnen handelt, wie das Album Unfold The God Man von Psychonaut (unsere Review hier), dessen Ideen auf der Emerald EP in „The Great Realisation“ weitergesponnen werden. Kurz gesagt steht der Begriff des Anthropozän, definiert von den Chemikern und Atmosphärenforschern Paul Crutzen und Eugene F. Stoermer, für das aktuelle Erdzeitalter, welches von der Präsenz der menschlichen Spezies geprägt wird. Zum ersten Mal seit Bestehen des Planeten hat eine Kreatur einen Einfluss auf die globale Geologie, so greift die Anwesenheit des Menschen nachweisbar in die Beschaffenheit der Atmosphäre, der Temperaturen der Weltmeere, der Umgestaltung großer Landflächen, erschafft neue Minerale, zerstört, verschmutzt, rottet und beutet aus. Viele aktuelle Bands in allen Subgenres des Metal beschäftigen sich mit diesem Thema, wie gesagt, Nightwish auf den Alben Endless Forms Most Beautiful und HVMAN :II: NATVRE, Delain auf Apocalypse & Chill, AVATAR auf Hail The Apocalypse, um nur ein paar Beispiele zu nennen, und eben auch Psychonaut. Der über 16 Minuten lange Track „The Great Realisation“ berichtet über den Menschen als Individuum und als Spezies, wie er einerseits die Wunder der Erde, personifiziert in „Mutter Erde“ (übrigens auch ein in vielen Alben rekurrentes Motiv!), in einem psychedelischen Rausch erfährt. Er wird sich andererseits selbst bewusst, erfährt die Geheimnisse des Universums und verliert sich in seiner Allmachtsfantasie, bis er völlig von seiner Umwelt entfremdet ist. Dies kann nur in der Katastrophe enden, Psychonaut haben sich bereits in ihrem 2020-er Album Unfold The God Man über genau diese Problematik Gedanken gemacht. Was Psychonaut so besonders macht, ist dass sie die aktuellen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse in Literatur und Musik übersetzen, fantastisch überzeichnen, multisensorisch erfahrbar machen. In „The Great Realisation“ erschaffen sie einen komplexen, spannenden Soundteppich. Stark spürbar sind die Emotionen, die Message, so nimmt die Härte und Aggression zur Mitte des Songs (Höhepunkt!) zu, als der Hauptkonflikt des Menschseins thematisiert wird. Klar hören wir die musikalischen Vorbilder aus dem Psychedelic Rock heraus, Led Zeppelin und Pink Floyd wären stolz, ihr Erbe in der Musik von Psychonaut zu hören! Heavier Einflüsse kommen von Amenra und Tool, zu deren Fans sich die Jungs gerne bekennen. Gerade, als die Spannung kaum noch auszuhalten ist, reduzieren Psychonaut die Lautstärke, aber nicht die Dramatik. „Ethno“-Instrumente wie Tierfelltrommeln, Maultrommeln, Didgeridoo, folklorische Gutturalgesänge, hüpfende keltische Melodien auf der E-Gitarre, spiegeln akustisch die Multikulturalität und das Schöne und Gute ab, das die Menschheit auf der ganzen Welt geschaffen hat. Bevor wieder ein aggressiver Scream die Idylle zerreißt und uns unaufhaltsam auf das katastrophale Ende zusteuern lässt. Diese Idee, das kulturelle Erbe der Menschheit durch einen Mix unterschiedlicher Musikkulturen abzubilden, könnte von vorhin genanntem „The Greatest Show On Earth“ von Nightwish inspiriert worden sein … Teil eins der Emerald EP ist wahrlich imposant. Man kann sich auf die tiefere Message einlassen, oder einfach nur den Trip genießen. Geniale Musik kombiniert mit genialen Lyrics, was anderes erwarten wir von Psychonaut auch nicht!
Teil zwei wird von Sâver aus Norwegen bestritten. Ihr Ansatz in „Dimensions Lost, Obscurred by Aeons” ist ein anderer, doch passt dieser Track hervorragend ins Konzept der EP. Sâver haben bereits 2019 ihr von Kritikern und Presse gelobtes Debüt mit They Came With Sunlight gemacht und letztes Jahr auf dem Oya Festival in Oslo mit einer grandiosen multimedialen Show beeindruckt. An „Dimensions Lost, Obscurred by Aeons” hängen also große Erwartungen. Welche nicht enttäuscht werden! Der Koloss von einem Song startet sehr sphärisch mit spooky Sounds auf dem Synthesizer. Wabernd passiert in dieser musikalischen Ursuppe erst einmal lange nichts, doch mehr und mehr setzen zunächst vereinzelte, dann insistierende elektronische Beats ein. Sie erinnern ebenso wie das Intro von Psychonauts „The Great Realisation“ an einen Herzschlag, doch in „Dimensions Lost, Obscurred by Aeons” ist dieser leicht schneller, in einem Tempo das eine unangenehme Anspannung verursacht, weder ein Herzschlag eines entspannten Ruhezustands, noch der einer aufregenden Aktivität. Dieses mittelschnelle, gleichförmige Beben reibt uns ganz schön auf, dagegen werden die Synthesizerklänge über quälend lange Minuten nicht schneller, ein nervenzerreißender Kontrast. Schrille Töne, wie wenn man den Rand eines Glases reibt, kommen dazu und intensivieren die Stimmung. Erst bei über sechs Minuten kommen klappernd schnarrende Percussionakzente dazu und eine Minute später zerreißt eine stark angezerrte E-Gitarre den bisher überwiegend elektronisch erzeugten Klangraum. Sâver schlagen nun die Richtung rauer, kratziger, unruhiger, gebrochener Metal ein. Der Bruch ist so überraschend wie er ins Konzept passt, immerhin spiegeln sich diese zwei musikalischen Parts im Titel wider. Sâver wollen mit „Dimensions Lost, Obscurred by Aeons” musikalisch den Raum zwischen Dunkelheit und Licht füllen, in einer cineastischen Landschaft extreme Gefühlunterschiede ausdrücken. So hatte sicher auch die Pandemiesituation einen Einfluss auf die Musik, denn Sâver sagen selbst, dass diese zwar viel Schaden und Schmerz verursacht hat, ganze Gesellschaften zum Stillstand brachte, doch hat sie auch Zeiträume eröffnet. In einem dieser Zeiträume entstand „Dimensions Lost, Obscurred by Aeons”, in welchem sie auch stimmlich die Stimmungsschwankungen ausdrücken, mal in weichem, fast zärtlichem Gesang, und dann wieder mit wütenden Screams. Wie bei Psychonaut kommen bei Sâver auch heftige Zerren zum Einsatz, der Bass wiegt gefühlt Tonnen schwer und beide Bands wetteifern in Kreativität und Komplexität. Was bei Sâver stilitisch jedoch stärker hervorsticht, das ist der breite Einsatz von elektronischen Beats, Effekten, sowie tragende Melodien auf dem Synthesizer. Wir können nur hoffen, dass bald wieder Live-Konzerte vor Publikum erlaubt sein werden, denn beide Bands, Psychonaut wie Sâver müssen ein echtes Erlebnis sein!
SKULL NEWS kann die gemeinsame EP Emerald von Psychonaut und Sâver allen Fans von verspulter, herausfordernder, spannender, stark von Metal wie von Psychedelic Rock inspirierter Musik empfehlen und wie hoffen, dass beide Bands sich bald an neue Alben machen!
Psychonaut & Sâver: EP Emerald (14. Mai 2021, Pelagic Records)
01 – „The Great Realisation” (Psychonaut)
02 – „Dimensions Lost, Obscurred by Aeons” (Sâver)
Auch wenn die Bands die EP vollständig auf YouTube und auf Bandcamp zum kostenlosen Anhören zur Verfügung stellen, wäre es trotzdem cool, ihnen ein paar Groschen in die leeren Taschen fallen zu lassen!
Physische Kopien der EP Emerald von Psychonaut & Sâver gibt es hier bei Season Of Mist
Sâver’s Debütalbum They Came With Sunlight auf bandcamp
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