Review: OBSIDIAN TIDE – The Grand Crescendo
Obsidian entsteht bei rascher Abkühlung von Lava. Die flüssige Lava kann innerhalb Monaten, aber auch Tagen und im Extremfall von Stunden fest werden. Und schwarzer Obsidian wird auch als Werkzeug zur Reinigung von negativen Energien angesehen, kann dabei helfen, negative Einflüsse und Blockaden zu entfernen und einen klaren Energiefluß zu fördern.
Eigentlich ist die Musik des 2012 in den Vororten von Tel Aviv gegründeten Trios damit grob umrissen. Gleich einem Lavastrom wälzt sie sie sich den Abhang hinunter, läßt die Magma in der Dunkelheit der Nacht leuchten, mäandert an Felsformationen vorbei, nimmt gelegentlich an Fahrt auf, steckt trockenes Gehölz in Brand und ergießt sich dann quasi in einem großen Crescendo ins Meer. Und Tiden entwickeln durchaus einen gefährlichen Sog mit Brandungsrückströmen und holen auch geübtere Schwimmer mächtig von den Füßen.
Nah dem 2019 erschienenen Erstlingswerk Pillars of Creation brachten OBSIDIAN TIDE Ende September einen mehr als würdigen Nachfolger auf den Markt. The Grand Crescendo hat durchaus das Potential, die Band zum nächsten heißen Act aus dem schier unerschöpflichen Füllhorn aus dem Land, in dem Milch, Honig und hin und wieder auch Lava fließen, werden zu lassen. Oz Avneya zeichnet für Gitarre und den cleanen Gesang verantwortlich, Shachar Bieber stellt mit harsh Vocals und Bass den tieftönenden Gegenpart, und Erez Nadler spielt mit Drums, Percussion und Programming eine gewichtige Rolle.
Auf etwas mehr als 62 Minuten nehmen uns OBSIDIAN TIDE auf eine betörend schöne Reise durch Raum und Zeit mit. Die Tracks muten mit jeweils 8 Minuten und länger auf den ersten Blick recht üppig an, was jedoch eher ein guter Schnitt im progressiven Bereich sein dürfte.
Hören wir rein…
Tracklist: Obsidian Tide The Grand Crescendo (29. September 2023)
01 – Clandestine Calamites (8:46)
02 – Beyond (8:41)
03 – The Invasion on Paradise (9.42)
04 – HALO CRVSHER (8:20)
05 – The Undying Flames (10:36)
06 -The Field of Reeds (parts I, II, III) (13:32)
07 – Miracles (The Field of Reeds part IV) (2:50)
Der Eröffnungssong, „Clandestine Calamites“, gibt die Richtung schon recht klar vor. Oz‘ schmeichelnder, heller Gesang trifft auf Shachars harshe Zeilen, im Wechselspiel von „Gut“ und „Böse“, hoffnungsvoll und düster. Schöpfungsdämmerung und Apokalypse, untermalt und eingerahmt von Instrumenten, die sich und der Songentfaltung ausreichend Zeit geben und sich nicht nur auf die genretypischen Gitarre-Bass-Drums beschränken, sondern mit Danielle Sassis Querflötenspiel und klug gesetzten Akzenten eine sehr spezielle Leichtigkeit erzeugen, und auch – wie in „Halo Crvsher“ – einen orientalischen Twist verleihen.
„Beyond“ setzt die Reise düsterer und heavyier fort, ein Ticken schneller und nicht gerade so beschwingt wie sein Vorgänger. „The Invasion of Paradise“ thematisiert die Eroberungen durch die Weißen und das daraus resultierende tiefsitzende Trauma, und könnte dank des nachdenklichen Grundtons als Powerballade durchgehen – immer wieder durch heavy Riffpassagen und Growl-Passagen durchbrochen. „The undying Flames“ könnte eindringlicher nicht sein. Die Lyrics legen einen Bezug zur jüdischen Diaspora nahe (After ages spent in exile / Without a land to call our own /Endless persecution, seeking retribution /For too long it’s all we’ve known) und könnten durchaus besorgt auf die aktuelle politische Entwicklung im Land schauen, immerhin fanden die wöchentlichen Proteste gegen die Justizreform, die dem global fortschreitenden Rechtsruck einen weiteren Schub hinsichtlich der Unterwanderung und Abschaffung der Demokratie leisten kann, vor den Augen der Weltöffentlichkeit statt (Tonight we say no more / We vow to take this war/ The world will hear us roar, again /Pull up from the mire, light the pyre), bis das eine Woche nach der Albumveröffentlichung stattgefundene, in der Geschichte Israels beispiellose, Massaker der Hamas an der Bevölkerung, das komplette Augenmerk in der Konsequenz nach sich zog – We vow to take this war.
„The Field of Reeds“ ist das längste Lied im Feld und in drei Abschnitte unterteilt. Wie wir bereits in unserem Interview mit SUBTERRANEAN MASQUERADE im April 2021 festgestellt haben, scheint es in der Seele Israels zu liegen, aus Tod, Trauer, Verlust, Krieg und Verfall noch etwas Wunderschönes zu machen, was man durchaus auch als Therapie bezeichnen könnte. Zum Niederknien schön, in eindringlicher Poesie, besingen und beklagen OBSIDIAN TIDE aus der Sicht des Protagonisten, des Erzählers, den Tod seines kleinen Sohnes im alten Ägypten, den Schmerz des Verlustes und der inneren Zerrissenheit, den man wohl nur nachspüren kann, wenn man selbst ein Kind verloren hat, die Sehnsucht, wieder mit dem geliebten Kind vereint zu sein. Irgendwann, irgendwo.
The smile of a newborn is more than we could wish for in this world – das ist für dich, Kfir, und die Hoffnung, die niemals stirbt.
Abgeschlossen wird dieser Zaubertrip von der Instrumentalpassage „Miracles“, inoffiziell vierter Teil von „The Field of Reels“.
Mit seiner atmosphärischen Dichte steht The Grand Cresendo seiner schwermütigeren Schwester Wildhoney (TIAMAT) kaum nach. OBSIDIAN TIDE erreichen einen Schwebezustand, indem die Gesangspassagen luftig genug bemessen sind, um den längeren, fließenden Instrumentalpassagen ausreichend Raum zu lassen. Die schmetterlingsgleich über Akustikgitarrenakkorde taumelnde Querflöte, mal klassisch, mal jazzig anmutende Passagen, das Yin-Yang-Spiel der Gesangsklangfarben sorgt für eine emotionale Astralreise. Schließt die Augen und laßt euch treiben.