Lyrics-Review: Nightwish HVMAN :II: NATVRE
Fünf lange Jahre haben wir auf ein neues Album von Nightwish gewartet – und jede Sekunde hat sich gelohnt. Anstatt wie sonst an dieser Stelle die Band vorzustellen, wollen wir von SKULL NEWS diesmal direkt einsteigen, denn es gibt so viel zu sagen! Schon bevor das neunte Studioalbum der finnischen Symphonic Metal Band, HVMAN :II: NATVRE, am 10 April, herauskam, wurden fleißig Rezensionen dazu veröffentlicht, die sich hauptsächlich um die musikalische Gestaltung gekümmert haben. Wir von SKULL NEWS laden euch dazu ein, dass wir uns gemeinsam die Songtexte genauer anschauen. Denn HVMAN :II: NATVRE ist, das kann hier schon gesagt werden, ganz unvoreingenommen eines der größten poetischen und musikalischen Meisterwerke der aktuellen Zeit. Auf dem Doppelalbum haben die Musiker*innen rund um den ambitionierten Komponisten Tuomas Holopainen nichts Geringeres versucht, als die menschliche Natur und die Enstehung der Kultur darzustellen. Philosophischer Metal vom Feinsten! HVMAN :II: NATVRE besteht aus einem Doppelalbum, wobei der erste Teil neun Lieder enthält, in denen die volle Band mit Unterstützung eines gesamten Symphonieorchesters und Chors auftritt und die „Mensch“-Seite thematisiert. Der zweite Teil ist fast vollständig instrumental und bringt wahre Klanglandschaften hervor, um die Wunder der Natur zu beschreiben. CD 2 ist eigentlich ein einziges eigenständiges modernes Klassikkonzert, musikalisch unabhängig vom ersten Part. Wir werden aber weiter unten zeigen, wie sich Nightwish im Bandteil des Albums in den Lyrics auf den instrumentalen Teil beziehen. Es gibt so viel zu erkunden! Glücklicherweise haben Nightwish schon am Tag der Veröffentlichung das komplette Doppelalbum in Form von aufwändigen Lyric-Videos (für den Hvman Teil) auf YouTube hochgeladen. So könnt ihr sie euch beim Lesen dieses Artikels parallel anhören. Währenddessen nimmt euch SKULL NEWS mit auf eine Entdeckungsreise in die fantastische Poesie von Nightwish’s HVMAN :II: NATVRE! Deshalb wird diese Review sich hauptsächlich mit dem ersten Teil des Albums beschäftigen. Vielleicht haben wir von SKULL NEWS demnächst auch eine Rezension für den instrumentalen Teil des Albums für euch.
Tracklist: Nightwish HVMAN :II: NATVRE (10. April 2020, Nuclear Blast)
CD 1 HVMAN
01 – Music
02 – Noise
03 – Shoemaker
04 – Harvest
05 – Pan
06 – How’s the Heart?
07 – Procession
08 – Tribal
09 – Endlessness
CD 2 All the Works of Natvre Which Adorn The World
I. Vista
II. The Blue
III. The Green
IV. Moors
V. Aurorae
VI. Quiet As The Snow
VII. Anthropocene (Incl. Hurrian Hymn To Nikkal)
VIII. Ad Astra
Das neue Album beginnt mit dem Titel „Music“, welcher nichts anderes vorzuhaben scheint, als die Entstehung der Musik und Kultur nachzuerzählen. Mutet hochgegriffen an, funktioniert aber. Zuerst klingt „Music“ wie der Beginn einer Orchesterprobe. Leise werden alle Instrumente gestimmt und spielen ihre Melodien an. Im Hintergrund kommen gleichzeitg Naturgeräusche, alte traditionelle Instrumente, ein dröhnendes Nebelhorn, hinzu. Wir hören in diesem Klanguniversum sehnsuchtsvolle Flöten, zarte Harfen, schwebende Synthesizerschwaden, gebrochene klirrende Klaviermelodien. Noch ist es eine musikalische Ursuppe, in der es noch keine erkennbaren Formen gibt. Die Spannung steigt. Dann wird der Klangraum immer komplexer, Nightwish typischer Chorgesang setzt ein, das Orchester organisiert sich, dazu knistern ungewohnte elektronische Effekte, Sounds die wir von den finnischen Metallern bisher selten gehört haben. Wir nehmen auch einen dezenten E-Bogen auf der Gitarre wahr, ein sphärisches, an Pink Floyd erinnerndes Element, das Nightwish auf ihrer Decades Tour mit ihrem Multiinstrumentalisten Troy Donockley ins Repertoire aufgenommen haben. Dem Kopf der Band, Tuomas Holopainen, ist es stets wichtig, in den Kompositionen eine wahre Klanglandschaft zu erzeugen und in der Tat ist das Doppelalbum HVMAN :II: NATVRE in der für CDs höchtsmöglichen Qualität aufgenommen und abgemischt worden. Das macht sich bezahlt! Tatsächlich assoziiert man beim Anhören von „Music“ sofort eine Art Höhle, in der zunächst „primitive“ Instrumente, traditionelle kehlige Gesänge, irische Uileann-Pipes erklingen und sich mit klassischem Orchester und Chor und modernen Metalinstrumenten vereinen. Zusammen wirken sie gleichzeitig zart, lebendig, schwebend, aber auch drohend, düster. Die Anspannung löst sich, als sich endlich Floor Jansen’s zerbrechliche, glasklare Stimme erhebt. Mit Leichtigkeit singt sie die tänzelnden Noten und die großen Intervallsprünge in der Melodie – und beweist, dass man nicht immer volle Rock-Röhre oder Operetten im Metal singen muss, um Meisterklasse zu zeigen. Im Refrain kommen sanft die Männerstimmen hinzu. Troy Donockley übernimmt unaufdringlich die Führung und Bassist Marko Hietala harmonisiert mit seiner Charakterstimme die beiden anderen Melodien. Nightwish haben noch nie zuvor so einig gewirkt und man merkt, dass sie auf ihren vielen Touren in den letzten Jahren als Musiker*innen zusammengewachsen sind. Erst mit der zweiten Strophe beginnt das Schlagzeug und Kai Hahto bringt sein Talent für vielfältige Rhythmen und Akzente zur Geltung. Nach dem zweiten, sehr inbrünstigen Refrain, geht es endlich richtig heavy ab und Gitarrist Emppu Vuorinen darf ein episches Solo präsentieren. Leider ist es das einzige Gitarrensolo auf dem Album, doch wie wir später zeigen werden, bringt Emppu Vuorinen deutlich mehr Härte in den neuen Nightwish-Sound ein. Die Gitarre hat einen viel satteren und tieferen Sound und Emppu Vuorinen spielt aggressiver als bisher. Auch die Refrain-Melodie ist ungewöhnlich für Nightwish. Er ist fröhlich und melancholisch zugleich. Wie zu Anfang angekündigt, wollen SKULL NEWS euch auf einige Besonderheiten in den Songtexten hinweisen, denn Nightwish sind ein Gesamtkonzept, Musik und Texte sind mit Sorgfalt komponiert und geschrieben.
So entdecken wir, dass die Lyrics von „Music“ bereits das Konzept des Albums vorgeben: Die Natur stiftet Musik, sie ist wie ein Theater, aber auch ein Ort der Entgrenzung – ein Motiv aus der künstlerischen Epoche der Romantik, stark von der Psychoanalyse Sigmund Freuds geprägt. Hier begegnet sich der Mensch selbst. Er findet und verliert sich. Trotzdem bedeutet Natur Liebe, sie inspiriert die Musik und diese bringt die Menschen zusammen: „Give me a home inside you until the final thank you and good night“. Das lyrische Ich in diesem Lied ist die personifizierte Musik und sie spricht uns direkt an. Das gesamte Album HVMAN :II: NATVRE beschreibt, dass die Musik die Wiege der Kultur an sich und der Geschichtsschreibung sei, „Human, singing the tale of another man“. So ist es auch, die frühen Geschichtsschreiber*innen verbreiteten die Taten großer Menschen in Form von Gesängen. Jedoch wurde Musik aus der Stille geboren, es ist fast ein Akt aus der Genesis. Zuerst war Stille und es wurde Musik, „All it took was time and silence“. Gleichzeitig sind Musik und Kultur von der Natur inspiriert, „before my home was in the wind and surf the birds and rain, voices of the Northern Light“. Hier greifen Nightwish auf eines der Lieder des zweiten Teils voraus, „Aurorae“, was „Nordlicht“ bedeutet. Es ist nur eines von vielen Malen, wo Nightwish sich auf HVMAN :II: NATVRE auf sich selbst beziehen und so eine enge Struktur, einen kleinen Kosmos, erschaffen. Auf diese Weise offenbart auch der instrumentale Teil des Albums, welcher der Natur gewidmet ist, dass Menschen die Natur nur aus der Perspektive als Menschen wahrnehmen und beschreiben können. Daher ist das Bild der Natur etwas genuin vom Menschen geschaffenes! Musikalisch haben das Nightwish im gesamten Album umgesetzt: Immer wieder fügen sie Naturgeräusche, Stammesgesänge, traditionelle Instrumente, Melodien und Gesänge aus verschiedenen Kulturen mit der modernen Musikkultur (Metal und elektronische Musik) zusammen, ohne dass es kitschig wird. Der Mensch kommt sich und der Natur in der Kultur, vor allem der Musik am nächsten, nur hier wird er unsterblich. Er erreicht in der Natur die „Endlessness“, wiederum ein Zitat eines Songtitels! Bereits auf dem Vorgänger Endless Forms Most Beautiful (EFMB) haben Nightwish die Essenz des Menschseins zu ergründen versucht, besonders in „The Greatest Show On Earth“ (TGSOE), in welchem sie die Evolution des Lebens auf der Erde, die Entstehung der menschlichen Kultur und die Sehnsucht nach Unsterblichkeit versucht, in ihrer Musik zu reflektieren. In „Music“ beziehen sich die Lyrics, wie der Rest von HVMAN :II: NATVRE, immer wieder auf die anderen Lieder und auf vorige Alben, sowie auf wissenschafltiche Erkenntnisse (die Evolutionstheorie von Charles Darwin und seine moderne Auslegung durch Richard Dawkins), auf Theologie, Philosophie usw. Deutlich wird es bei den Zeilen „erdicate the torment of a heavy heart“, was auf „How’s The Heart?“ referiert, oder „want a tale in major scale“, klar ein Bezug auf „Harvest“, welches in Dur geschrieben ist. Auf „Pan“ greifen Nightwish im Vers „wish to leave the hollow to dance with Pan?“ vor, wie auch auf „Moors“ in „Can you hear the brave drum from the moors“, was eines der Stücke auf dem instrumentalen All the Works of Natvre Which Adorn The World ist und eines der Sehnsuchtslieder ist. Mit der Zeile „Follow the beat and leave the noise behind if we be lovers“ bahnen Nightwish das darauffolgende Lied „Noise“ an, und man erkennt, dass die Band tatsächlich in „Music“ versucht, eine Kulturgeschichte der Musik und ihrer Bedeutung für den Menschen darzustellen. Im Kontrast zum gleich über uns hereinbrechenden „Noise“ endet das erste Lied jedoch mit dem Wort „silence“ und wir erinnern uns an die fantastische Performance von Sound of Silence von Floor Jansen im Rahmen der niederländischen TV-Show Beste Zangers im Herbst 2019!
Track zwei namens „Noise“ hält nicht hinter dem Berg, wohin es thematisch gehen soll. Bedrohliche Zivilisationsgeräusche leiten den eingängigen Metalbrecher ein. Es ist ein deutlich zugänglicheres Stück, obwohl es ungewohnt böse und hart klingt. Kein Wunder, dass „Noise“ als erste Single ausgesucht wurde. Das gesellschaftskritische düstere Video sorgte bei den Nightwish Fans für Furore, so politisch hat man Nightwish noch nie zuvor Stellung beziehen sehen! In verschiedenen Szenen werden Selfie-Opfer, Selbstdarsteller, Heuchler, entlarvt und an den Pranger gestellt. Immer wieder sieht man, wie ein Kind, das langsam altert, auf einen Altar gefesselt von einer gruseligen schwarzen Gestalt zum Medienkonsum gezwungen wird. Auch in den Lyrics sieht man klar die Referenzen zur Serie Black Mirror, von der sich Tuomas Holopainen hat inspirieren lassen: „the mirror is black, only a copy stares back at a slave of the brave new world“, inklusive einer schönen Referenz zum dystopischen Klassiker Brave New World von Aldous Huxley [Ed.]. Passend dazu wirkt die Musik verstörend und aggressiv. Endlich darf Floor Jansen in Nightwish stimmlich Vollgas geben, sicherlich hat ihre starke Performance von alten Hits wie „Slaying the Dreamer“ und „Devil and The Deep Dark Ocean“ auf der Decades Tour 2018/19 hier den Grundstein gelegt. Ihr Gesang ist nicht unbedingt durchgängig auf klangliche Ästhetik ausgelegt, im Gegenteil klingt sie oft dämonisch. Außerdem müssen die unfassbare Virtuosität des Drummers Kai Hahto und das schön akzentuierte Bassspiel von Marko Hietala hervorgehoben werden. Vom Songtext her ist „Noise“ überwiegend in der Du-Form geschrieben, im Gegensatz zum vorigen Lied, es verstärkt die Anklage gegen die Menschen. Spannend wäre zu wissen, ob Tuomas Holopainen wirklich mit den Versen „Please love me, see how I bleed, please endure, I have such empathy in me“ sich auf wahre oder falsche Propheten bezieht, dies klingt ja schon wie eine Referenz auf Jesus! Denn dieser hat ja die Sünden der Menschen auf sich genommen, für sie gelitten (und geblutet!) und sogar seinen Feinden vergeben. Gefolgt wird diese Referenz von einem Bezug auf das Lied „Pan“ und gleichzeitig auf den Film von Guillermo de Toro, Pan’s Labyrinth, „lost in the maze the real and human feel“. Das Labyrinth ist ein Ort, in dem man sich selbst schnell verliert. „Noise“ ist alles in allem eine Abrechnung mit aller Eitelkeit, durch welche man seine Menschlichkeit verliert. „Colour a yarn and the crowds will gather“, also schon die kleinsten Handgriffe in Szene gesetzt zieht Aufmerksamkeit an. Besonders eindrücklich sind die letzten zwei Zeilen des Lieds: „Beyond the human horizon something terrifying sleeps“. Das dräuende Unheil, das sich die ganze Zeit schon musikalisch im Hintergrund anbahnt und dann in „Procession“ in der Rückschau betrachtet wird, wird irgendwann über die Menschen hereinbrechen.
„Shoemaker“, Lied Nummer drei, beginnt mit mittelalterlichen Klängen, also werden wir wieder in die Vergangenheit zurückversetzt, nach einer kurzen Stippvisite in die Gegenwart bei „Noise“. Wir hören eine fröhliche Dulcimer-Melodie, Erinnerungen an das Mittelalter oder die Renaissance kommen auf, bevor Emppu Vuorinen und Kai Hahto mit einer heavy Gitarren- und Drumkombi dunkle Vibes à la „Master Passion Greed“ erzeugen. So böse hört man Nightwish selten! Doch besonders fällt die für Nightwish vollkommen ungewöhnliche Gesangsmelodie in der Strophe auf! Floor Jansen vollführt mit ihrer Stimme solch rasante Sprünge, als ob sie nicht singen, sondern Violine oder Klavier spielen würde. Im Hintergrund kontrastieren elektronische Effekte, ein „retro-futuristisches“ Stilelement, den wir schon beim neuen Delain-Album beobachtet haben. Überraschend übernimmt im Refrain Troy Donockley sanft die Leadstimme und alle drei Sänger*innen harmonisieren perfekt. Plötzlich und zugleich unaufdringlich treten Troy und Marko Hietala in den Vordergrund. Endlich schöpfen Nightwish alle Stimmen voll aus! Im Bridge-Teil gibt es einen tollen aggressiven Gesangspart, dem ein verschlepptes gegenläufiges Schlagzeug entgegengesetzt wird. Eine ungewohnte Rhythmisierung, doch die hereinschwebenden Geigen erinnern an ein älteres Lied von Nightwish, „7 Days to the Wolves“. Volles Drama! Doch gehen wir auf die Lyrics ein. Eine Kinderstimme zitiert aus William Shakespeare, der gesamte Songtext bezieht sich auf diese Passage aus Romeo und Julia, mit den „zerschnittenen kleinen Sternen“. Bereits in „The Greatest Show on Earth“ (EFMB) wurde das Leben auf dem Planeten mit einem Theaterstück verglichen, diese Idee wird hier fortgesetzt. Eine weitere Parallele ist, dass dieses Lied als Titel einen Beruf trägt, der „Schuhmacher“, so wie in TGSOE, wo der Teil über die Menschheit mit „Toolmaker“ betitelt ist. In „Shoemaker“ wird das Schuhmacherhandwerk als Beispiel der kulturellen Errungenschaften des Menschen herangezogen. Der Schuhmacher steht sympolisch für die menschliche Spezies: Menschen tragen bereits seit mindestens 40.000 Jahren Schuhe, um sich vor Verletzungen, Kälte, Nässe, Hitze zu schützen. Diese Schutzkleidung bestand früher aus Tierhäuten und natürlichen Materialien, also nutzt der Mensch die Natur um den Widrigkeiten der Natur zu trotzen! Ab 5000 vor Christus im Antiken Ägypten ist der Beruf des Schuhmachers bekannt und man begann kompliziertere Konstruktionen an den Füßen zu tragen, zum Beispiel Sandalen aus Leder. Schuhmacher waren Teil einer ersten Hochkultur, dieser Beruf ist aber im Laufe der Jahrhunderte noch wichtiger geworden. So galten im Christentum lange Sandalen als unrein, da sie den Körper nicht genug bedeckten (man denke an den Baum der Erkenntnis, den Sündenfall und die Entdeckung der Nacktheit). Schuhe wurden auf diese Weise ein religiöses Symbol, später sogar ein Politikum. In Mittelalter und Früher Neuzeit galten strenge Kleidervorschriften, wer welche Arten von Schuhen tragen darf, um die Stände und Zünfte sowie Arm und Reich zu unterscheiden. Zum Beispiel zeigte die Länge der Spitze der mittelalterlichen Schnabelschuhe den Reichtum des Trägers an, sowie seinen Stand. Also kann man davon ausgehen, dass Nightwish den „Shoemaker“ als Symbol der menschlichen Kultur(en) verstehen. Im Songtext werden immer wieder Wanderer und Reisende genannt. Der Mensch wandelt jedoch in „Shoemaker“ auf einer verlassenen Erde: „howling at the Earth, yours the whole graveyard of heavens, a ship that sailed home“. Der Planet Erde treibt im leeren Universum herum, ein Bild, das schon im vorigen Album EFMB in „Shudder Before the Beautiful“ vorkam, doch war es dort ein reich bevölkertes Raumschiff. In „Shoemaker“ steuert der Planet mit unbekanntem Ziel durchs Universum: „yours is the whole starmap of heavens of myriads of endings“ und „we came here to be a waypoint to the far“ zeigt den Einfluss des Menschen, der eine lange Zeit das Geschehen auf der Erde dominiert hat (Referenz auf „Anthropocene“ von CD 2!). Doch die Menschheit ist nicht mehr da, die Musiker*innen stimmen „the morn of mankind“ an. [Hier würden wir gerne noch Infos integrieren, die die wunderbaren Mitglieder der Facebook Gruppe Nightwish Family bei der Erstveröffentlichung dieser Review geteilt haben. Danke an euch!]: Eugene Merle Shoemaker war einer der wichtigsten Forscher in Astronomie und sein größter Traum war es immer, auf dem Mond zu landen. Er war sogar einer der Kandidaten für die Apollo Mondmission, durfte dann aber wegen einer Erkrankung nicht teilnehmen, was natürlich eine große Enttäuschung für Shoemaker war. Nach seinem Tod wurde seine Asche auf dem Mond beerdigt und Shoemaker ist bis heute der erste und einzige Mensch, der außerhalb der Erde begraben ist. Auf seinem Denkmal steht eben jenes Zitat von Shakespeare geschrieben, welches auch Nightwish in ihrem Lied verwenden. Es ist also klar, dass Nightwish sich hier auf den Astronomen Shoemaker beziehen – dieser steht aber symbolisch für alle Menschen.]
[Ed.] Seit der Mensch auf der Erde aufgetaucht ist, träumte er davon, zu fliegen, die Sterne zu erreichen, den Mond zu betreten, ein Motiv, dass seit Jahrhunderten in der Literatur, Kunst und Wissenschaft immer wieder auftaucht: siehe Le Voyage dans La Lune, George Méliès, Die Galoschen des Glücks von Hans Christian Andersen, Somnium von Johannes Kepler, De Terre à la Lune von Jules Verne, The Consolidator von Daniel Defoe, die berühmte Mondscheinsonate von Beethoven auf der Musikseite, oder natürlich das Album The Dark Side of The Moon von Pink Floyd, dann gibt’s noch von Neil Young das Lied Harvest Moon, man könnte hier spekulieren, ob es bei Nightwish hier eine Anlehnung gibt, immerhin folgen sich die beiden Lieder über den Mond und die Ernte, also Shoemaker und Harvest direkt auf dem Album! Man muss bei intellektuellen und belesenen Talenten wie Tuomas Holopainen grundsätzlich davon ausgehen, dass das kein Zufall sein kann. All die genannten Beispiele eint, dass der Mensch von Anbeginn sich danach sehnt, den Himmelskörpern nahe zu kommen (so auch in Pan, „to touch the stars“, „the man in the moon“), und danach, Spuren zu hintelassen, damit er nicht vergessen wird (eins der Motive vom Album EFMB). Shoemaker ist also nicht nur ein Song über den historischen Astronomen, sondern dieser steht symbolisch für den strebenden, forschenden, sehnenden Menschen an sich.
Plötzlich, ganz am Ende, erhebt sich meisterhaft Floor Jansen’s Stimme in klassischem Gesang, ergreifend unterstützt vom Chor, eindrucksvoll, genauso wie sie in Beste Zangers das Vilja-Lied vorgetragen hat! Unglaublich machtvoll lassen sie „Ad Astra“ erschallen, so heißt auch der letzte Titel des instrumentalen Albumteils.
Mit „Harvest“ folgt etwas Folkiges nach dem klassischen Abschluss des vorigen Lieds, und vor allem wird es auch scheinbar etwas leichtere Kost. Hier zeigt sich, was für ein wunderbar komponiertes Album HVMAN :II: NATVRE ist, nicht nur, dass sich die Lieder aufeinander beziehen, durch Text und Musik, sondern, Nightwish wechseln auch auf angenehme Weise eher anspruchsvolle mit eher leichteren Liedern ab, heavy und soft. So beginnt „Harvest“ zunächst fröhlich und folklorisch, mit eingängigen, simplen und zugleich berührenden Melodien. Doch in der Mitte wird es auf einmal unerwartet komplex und abwechslunsgreich. Wir hören Nightwish-typische Klavierläufe, seit Beitritt Troy Donockleys unverwechselbare keltische Flöten und Pipes, während Bass und Schlagzeug Druck machen. Emppu lässt die E-Gitarre mal heftig rocken, mal tänzelnd Melodien spielen. Zusammen stimmen die Instrumentalisten zu einem wilden Tanz an! Doch wenn man in die Lyrics, wieder aus der Ich-Perspektive der Erde, schaut, sieht man, dass „Harvest“ doch düsterer ist, als gedacht. Und auch intellektueller als die traditionellen Jig-Referenzen vermuten lassen würden! So beziehen Nightwish sich auf Naturwissenschaften, indem sie den „quartenary code“ zitieren. Dies sind Strukturen oder Codes, die auf vier Teilen basieren, anders als z.B. binäre Codes aus 0 1 mit denen PCs programmiert sind (Maschinen wie in „Noise“!). Der berühmteste Vierer-Code ist die Zusammensetzung der DNA aus den vier Proteinen Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin. Und welche Entdeckung! „Harvest“ ist in C-Dur geschrieben und die Akkorde a Moll und g Moll und C Dur prägen das Lied! Bei einem Genie wie Tuomas Holopainen sollte man hier nicht von einem Zufall ausgehen. Dies könnte man so interpretieren: Die Erde (das Ich) hat alles Leben erschaffen, nur um dass wir später bezeugen können, wie es am Ende stirbt, „so we could see the beautiful die“, unterlegt mit fröhlicher Musik. Wie alle Spezies, und da sind wir Menschen keine Ausnahme, sollen wir dahin zurückkehren, wo wir herkommen, aus der Erde, und Teil des Zyklus bleiben: „surrender to the Earth“. Die Menschheit muss dem Kreislauf von Ende und Anfang gehorchen, daher ist der Tod nichts Negatives, er ist natürlich und bedeutet immer gleichzeitig einen Neuanfang. Deshalb ist „Harvest“ ein Lied in Dur komponiert (wie in „Music“ angekündigt!), was gemeinhin als eine freudige Tongattung empfunden wird. Die fröhlichen, keltischen Tanzmelodien, evozieren ein Freudenfest, aber ein Erntedank bedeutet auch das Ende der fruchtbaren Periode im Jahr. Sie kündet also immer vom nahen Sterben. „Join the Harvest“ ist also eine Einladung zum Erntefest, wo man schließlich eigentlich selbst geerntet wird! Dennoch, und wie zuvor ist die letzte Liedzeile sehr wichtig, wir kommen lebendig zur Welt und geben neues Leben, wenn wir gehen: „arrive alive“ sing Troy tröstend.
Das alles hat man gerade erst verdaut, dann stimmt schon „Pan“ ungewohnt für Nightwish im ¾ Takt ein, setzt so aber auch den vorher begonnenen Reigen fort. Der Anfang ist fett und cineastisch, die Melodien erinnern ein bisschen an Fluch der Karibik – kein Zufall, immerhin hat Tuomas Holopainen immer gerne mit seiner Ähnlichkeit zu Jack Sparrow koketiert. Floor Jansen’s Gesang klingt sehnend und emotional, in nie gehörten Chordprogressions sinkt der Melodiebogen in Halbtönen ab. Was machen Nightwish mit uns?! So in die Tiefe gezogen reißt uns dann der hymnische Refrain von Troy Donockley und Marko Hietala nach oben, wie gewaltig es schallt! Und Emppu Vuorinen darf ordentlich hart auf der Gitarre abrocken. Spannungsreich sind auch der Kontrast zwischen dem Kinderchor und dem dunklen Nebelhorn, Floor singt in klassischer Stimme in tieferen Lagen, dies erzeugt einen alptraumhaften Klangraum, verlockend und verstörend zugleich. In den Lyrics geht es darum, dass der Mensch entdeckt, dass er sich in seiner Fantasie eine Welt erdenken kann. Vor seinem Erscheinen war die Erde wie eine weiße Leinwand, ein unbeschriebenes Blatt, doch mit der Kultur kam nicht nur die Schönheit, sondern auch die Gewalt, das Negative, in die Welt: „then, something wicked their way came, showed a way to the great escape, evoke the worlds, sparked the brain, an ape in awe before a door“. Nightwish beziehen sich hier wieder darauf, dass Musik die Wiege der Kultur ist (Anthropologen gehen heute davon aus, dass die Menschen zuerst sangen, bevor sie die Fähigkeit zu sprechen entwickelten), in Form von Geschichtenerzählen. Sie singen davon, dass Geschichten (stories!) die menschliche Kultur erbaut haben und im Kontext ihrer Religionsskepsis in vorigen Liedern wie „Yours is An Empty Hope“ (EFMB) kann man es so sehen, dass die Religionen auch nichts anderes als Geschichten sind, aber die Worte sind stark genug, um Kathedralen zu bauen. Die beschriebene Tür ist ein altes Motiv aus der Fantastik, wenn man an Narnia, oder Alice im Wunderland , denkt, oder an andere fantastische Geschichten, die damit beginnen, dass der Held oder die Heldin durch ein Portal, eine Tür, ein Loch im Boden geht und in eine fremde Welt eintritt. So endet das Lied auch, dass es am Menschen liegt, was er aus seiner Einbildung macht. Nightwish haben schon immer gerne „stories“ mit Fakten vermischt und so eine ganz eigene Welt erschaffen, siehe das Album Imaginaerium! Wer es nicht glaubt, immerhin nennen Nightwish in „Pan“ Tír na nÓg aus der irisch-keltischen Mythologie, eine Anderswelt, ein Ort der ewigen Jugend. Im Grunde also nichts anderes als was digitale Orte wie Instagram versprechen, wo die modernen Menschen sich hinsehnen und hoffen, ein möglichst perfektes Bild von sich darzustellen („Noise“!). Es ist bereits ein Thema auf dem EFMB Album, dass der Mensch das Bedürfnis danach hat, Spuren zu hinterlassen, unendlich zu werden, siehe das letzte Lied auf dem ersten Teil von HVMAN :II: NATVRE, „Endlessness“. [Ed.] Natürlich kommen einem auch die Referenzen auf die berühmte Kindergeschichte „Peter Pan“ von James Mathew Barrie in den Sinn, wo der titelgebende Held als einziges Kind nicht altert und in seiner eigenen fantastischen Welt Nimmerland Abenteuer besteht. Das Motiv des Kindes ist immerhin eins der häufigsten in den Songtexten von Nightwish vom Anfang ihrer Bandgeschichte an. Schließlich darf auch nicht der Bezug auf den griechischen Gott Pan, der als Hirtengott den reibungslosen Ablauf des Jahreszeitenwechsels überwacht (man denke an den Kreislauf des Lebens in „Harvest“ und „Procession“!). Dies sieht man auch in den Lyrics, wo von den Phänomenen der Natur gesprichen wird („winds will be named“, „Enter the woods“). Und klar ist auch der Hinweis darauf, dass der Gott Pan gerne Tanz und Musik genießt: „Imagine music, dance, illusion“! Auch dieses Lied von Nightwish lebt also von einer komplexen Mehrdeutigkeit und zahllosen kulturellen Referenzen in jedem einzelnen Vers!
„How’s The Heart“ beginnt musikalisch wie „Our Decades In The Sun“ (EFMB)! Auch gibt es den textlichen Rückbezug: „We see a mother with no child“. In beiden Liedern geht es auch um die Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Und es erinnert uns an das erste Stück für Nightwish, in dem Troy Donockley mit seinen Uileann-Pipes glänzen durfte, „Last of the wilds“ (Album Dark Passion Play)! „How’s The Heart“ ist aber nicht instrumental, es betört uns mit sanftem, fließendem, audrucksstarkem Gesang. Es mutet zuerst wie ein sehr gefälliges Lied mit einfachem Refrain an. Das tut gut nach dem sehr progressiven Lied zuvor. Es endet auch ganz weich mit den harmonischen drei Stimmen von Floor, Marko und Troy, außerdem wird mehrfach die Stille erwähnt, aus der in „Music“ die Musik entstand, und die im Gegenstaz zu „Noise“ steht. Das Beruhigende, Tröstende, kommt auch in den Lyrics rüber: „ask a no-one another John Doe“, man soll sich ebenfalls um die Unbekannten kümmern. Diese Liedzeile ist ein schöner Rückbezug auf die Hitsingle „Nemo“ von 2005! Denn lateinisch „Nemo“ heißt genauso „Niemand“ wie „no-one“ und John Doe ist in der Fiktion ein Name für jemanden, der nicht weiter identifiziert werden kann. Es ist ein Wortspiel, wenn jemand einen Namen trägt der im Grunde „namenlos“ bedeutet. „How’s The Heart“ ist wie eine musikalische Umarmung für all die Niemande und Leidenden („here I am to share the fear“). Es klingt freundlich, beruhigend, tröstend, so auch der Text, man soll für den Niemand, die kinderlose Mutter, die Armen, Leidenden da sein, ohne Ideologie, ohne Bevormundung, einfach für’s Herz des anderen, die Verzweifelten auffangen, selbst die, die wörtlich von der Klippe springen wollen. [Ed.] Übrigens auch ein sehr guter Fund der Mitglieder der Nightwish Family Gruppe: In der Single Élan vom Album EFMB wird bereits gesungen „the cliffs unjumped, cold waters untouched“, später am Ende des Refrains „Meet me where the cliff greet the sea“. Deutlich beziehen sich Nightwish also in How’s The Heart auf diesen früheren Song zurück, ein typisches Stilmittel von Nightwish und ein Beweis, dass sie es lieben, einen ganz eigenen narrativen Kosmos zu erschaffen!
Ein hymnischer Gesang, „a human paean“, soll angestimmt werden. Aber anstatt wie im Antiken Griechenland als Gesang für den Gott Apollon (vor und/oder nach einer Schlacht), soll es nun ein feierlicher Moment unter Menschen werden. Schließlich soll man die Waffen abstumpfen und stattdessen tanzen: „dull the blade and dance some more“.
Nach dieser Fröhlichkeit setzen Nightwish erneut einen Gegensatz mit „Procession“. Dieses Lied hat das Potenzial, die Hörer*innen noch lange zu verfolgen. Es klingt drohend und tragisch. Floor Jansen’s Stimme ist unfassbar traurig in der ersten Strophe und besingt die „endless forms“ des Lebens, die nun vergangen sind. Im Hintergrund zieht der E-Bogen auf der Gitarre gespielt von Troy Donockley melancholische Melodien. Jedoch bricht immer wieder ein Sonnenstrahl durch die Finsternis, wenn die warme Holzflöte beginnt, dann wieder haut Kai Hahto kraftvoll auf das Schlagzeug, der Gesang wird strebender. Repetitiv zwar, wie eine Prozession, wiederholend wie ein Ritual, immer die gleichen Melodien variierend, künden Nightwish vom Rückblick auf Menschheit: „we are the singers of the gone“. Es ist das Ende des Anthropozän (siehe „Anthropocene“ auf CD 2), das Erdzeitalter, das durch die Präsenz der menschlichen Spezies geprägt wurde! Dieser Begriff war schon seit Ende des 19. Jahrhunderts bekannt, aber erst richtig durch die Studien der Atmosphärenforscher und Chemiker Paul Crutzen und Eugene Stoermer um 2000 geprägt worden. Sie führten ihn in Bezug darauf ein, wie die anthropogenen Treibhausgase zur Erderwärmung führen und die Gestalt und Bevölkerung der Erde verändern. Außerdem werden im Songtext die Lieder des zweiten Teils, „The Blue“ und „The Green“, zitiert, also die unberührte Natur der Ozeane und Atmosphäre sowie die Wälder. Die Meere und Wälder waren der Ursprung des Lebens, dann tauchte irgendwann die menschliche Spezies auf, der sich die Natur Untertan machte: „we remember Father Pikaia, gave the way, as along came sapien“. Pikaia graciliens war ein schädelloses Meereslebewesen des Kambriums gewesen, welches eine eigenständige Evolution durchmachte, anders als die Lebewesen mit Schädel, woraus sich dann schließlich der Mensch entwickelte. Doch der Mensch hat seinen überdurchschnittlich großes Hirn genutzt, um Kulturen zu erschaffen, was später dann zur Zerstörung der Natur führte. Und so bringt der Mensch sein eigenes Ende herbei, erinnern uns Nightwish: „We have been here a while, at the end of Pi, as along came harvest“. Die Kreiszahl Pi gilt als die fast unendliche Zahl, also für uns gefühlt waren die Menschen sehr lange da, aber in Wirklichkeit nur einen Augenblick auf dem Planeten. Es folgt das Ende, „harvest“, der Kreis schließt sich. Auch musikalisch knüpfen Nightwish hier wieder an das Lied „Harvest“ an, denn dieser Teil in „Procession“ ist in Dur geschrieben und untermalt die Kunde vom Ende mit optimistischen Klängen! Die Musiker*innen von Nightwish verstehen sich als Boten dieses Endes, „We will remember all the suffering, we wrote this in a tongue you will understand, Words and music with a touch of colouring“. Die Menschheit schreibt sich in Form von Musik in das Buch der Geschichte nieder, ein Motiv, wie Nightwish es schon in TGSOE vorgegriffen haben. Tief trifft uns die letzte Zeile von „Procession“: „We will remember mankind, our kin“. Es ist ein interessantes Gedankenspiel. Wir können nicht von der Zukunft aus auf unseren Niedergang zurückblicken, da wir ja dann nicht mehr sein würden! Die Idee von „we were here“, womit grandios das Album EFMB abschloss, wird hier wieder aufgegriffen. Wie im Museum betrachten wir uns selbst als Exponate der Geschichte, sicherlich haben Nightwish deshalb unter anderem das National History Museum in London als Setting für ihre Promofotos ausgesucht.
Die Assoziation vom Geschichtsrückblick setzt sich dann in „Tribal“ fort. Wie ganz am Anfang „Music“ geht es erst mit folklorischen Instrumenten, traditionellen, fast orientalischen Melodien los. Klagende Streicher versus rollende Beats und einem ziehenden Gesang, wie in „Sahara“, vermitteln eine angespannte Atmosphäre. Marko Hietala’s und Floor Jansen’s Stimmen sind teils rauh und böse, so wie in „Master Passion Greed“, immerhin singen sie von Monstern. Aggressiv sägt die E-Gitarre, hinzu kommen Stammesgesänge und Tiergeräusche. In nur vier Minuten handeln Nightwish die Entstehung der Religion und deren Perversion ab. „Tribal“ ist so eines der komplexesten Lieder von HVMAN :II: NATVRE, auch wenn es nicht sehr lang ist, gibt es viele interessante Twists. Nach dem Lied über eine rituelle Prozession, kommt also ein Lied über Religionsskepsis à la „Yours Is An Empty Hope“ (EFMB). Auf dem „bazaar of heavens for the hive mind“ suchen sich die Menschen aus, woran sie glauben wollen. Sie lassen sich von Ideologien und Doktrinen leiten, bevorzugen, das Gehirn auszuschalten und stattdessen den Schwarm entscheiden zu lassen, „smile to Elders like a good doll“. „Abraham cut in three, Man found Gods and began to preach“: Die drei Abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum, Islam werden gegründet und reißen den Stammvater Abraham zumindest im Songtext in drei Teile. Die Konkurrenz dieser drei Religionen des Mittleren Ostens wird als Grund für die jahrhundertelangen Konflikte gesehen (siehe auch das Album Mabool von Orphaned Land!) – passend dazu klingt hier die Musik gewalttätig. Die Skepsis gegenüber den Religionen drücken Nightwish damit aus, dass die Götter gefunden worden waren, und nicht dass sich die Götter den Menschen offenbart hätten: „Man found Gods and began to preach“. Also ganz im Gegenteil zu dem was in den heiligen Texten der drei Abrahamitischen Religionen niedergeschrieben steht! „Tribal“ hat mit Abstand den kürzesten Text, aber den mit dem größten Knalleffekt. Die Musik unterstützt diese Botschaft perfekt.
Abschließend bekommt in „Endlessness“ Marko Hietala ein Lied für sich. Seine unverwechselbare Stimme hat er zuvor in seinem neuen Solo-Projekt zum Besten gegeben, weshalb wir uns freuen, auf dem HVMAN :II: NATVRE Album mehr von ihm zu hören. Zugleich drückt er in diesem Lied hier ordentlich auf die Basssaiten, seinem Stamminstrument. Es hängt ein dunkler Sound in der Luft, doch der Refrain ist sanft und nostalgisch. jedoch ist Marko Hietala bekannt dafür, schnell zwischen Emotionen zu wechseln und so bringt er wunderbar das Verführerische und Diabolische zum Ausdruck, was der Dieb und Reaper, über den er singt, darstellt. Es scheint, als ob er in „Endlessness“ eine Figur wie Luzifer oder Loki verkörpert, jemand, der trickst und betrügt, bestiehlt und verführt: „I am the one you call the Thief“. Gleichzeitig erinnert der Songtext daran, dass die Menschen ihre Zeit auf Erden sinnvoll nutzen sollen „Decades, make them matter“. Am Ende will er einen in die Unendlichkeit führen: „soon beyond the fields you’ve come to know you will join the silent flow, follow me, I am the spark at the end of everything“. Es geht also um den Tod, doch es ist etwas Tröstliches darin.
Und so geht der erste Teil eines grandiosen Albums zuende. Nightwish haben sich mit HVMAN :II: NATVRE ein großes Ziel gesetzt und es mehr als erreicht. Nichts weniger als die Essenz des Menschseins zu erkunden und die Evolution der Musik darzustellen! Es ist eines der ambitioniertesten Musikprojekte seit langem und alles Warten hat sich gelohnt. SKULL NEWS empfiehlt, sich für dieses Meisterwerk viel Ruhe und Zeit zu nehmen und es auf hochwertigem Equipment abzuspielen, um die musikalischen Tiefen voll wahrnehmen zu können. HVMAN :II: NATVRE ist definitiv kein Album zum einfach nebenher laufen lassen, man braucht Zeit, um es kennen zu lernen. Und es ist es wert, sich wirklich intensiv auf die Lyrics einzulassen. Wir haben hier unsere Eindrücke mitgeteilt, hoffen, ihr hattet Spaß beim Lesen, und sind sehr gespannt, was ihr darüber denkt! Vergesst nicht, es gibt einen zweiten instrumentalen Teil, All the Works of Natvre Which Adorn The World, welcher ebenfalls darauf wartet von euch erkundet zu werden. Wir wollten uns hier aber vor allem auf die Songtexte konzentrieren, die schon wirklich genug Stoff hergeben, um ganze Bücher darüber zu schreiben. Fast hätten wir das auch getan! Danke für eure Geduld beim Lesen dieses Artikels!
Edit vom 18.04.2020: in [eckigen Klammen] und mit [Ed.] sind Abschnitte markiert, in denen Informationen ergänzt wurden.
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