Review: Jinjer Alive In Melbourne
Jinjer sind heute DIE Groove Metal Sensation aus der Ukraine. Kaum ein Festival, auf dem die vier noch nicht aufgetreten sind und das Publikum zum Kochen gebracht haben. Kaum ein Metalforum, in dem noch nicht hunderte Male begeistert die Live-Videos geteilt und Tatianas unglaublich starke, wandelbare Stimme, sowie die fingerfertige Spielweise der Musiker, die krassen und doch smoothen Rhythmuswechsel bestaunt und die wilden Stilmischungen diskutiert wurden. Doch zurück zum Anfang. 2009 in Horliwka gegründet, musste die Band 2014 weiter in den Westen des Landes umziehen, als der Krieg um die Halbinsel Krim begann. Seit Jahren sind Jinjer fast nur auf Tour, begeistern die Metal-Welt mit umwerfenden Shows, einfach, weil das Quartett nicht nach Hause zurückkehren kann. So konnten die vier seit 2016 in der nun endgültigen Zusammensetzung der Band ihren eigenwilligen Mix aus Djent, Progressive Metal, Metalcore und genrefremden Stilen wie R&B, Hip Hop und Soul entwickeln. Und sich live auf einander eingrooven. Das macht sich bezahlt, denn Jinjer haben mittlerweile schon auf allen namhaften Festivals gespielt und so war ein Live-Album nur eine Frage der Zeit. Am 5. März 2020 haben Jinjer in Melbourne eines der weltweit letzten Metalkonzerte gegeben, bevor global die Coronakrise ausbrach und die meisten Länder einen mehr oder weniger strikten Lockdown verhängt haben. Daher der leicht ironische Titel Alive In Melbourne. Am 20. November veröffentlichen nun endlich Jinjer ihr Live-Juwel bei Napalm Records und SKULL NEWS stellt euch dieses exklusiv vorher schon vor:
Tracklist: Jinjer Alive In Melbourne (20. November 2020, Napalm Records)
01 – Intro
02 – Teacher, Teacher!
03 – Sit Stay Roll Over
04 – Ape
05 – Judgement (& Punishment)
06 – I Speak Astronomy
07 – Who Is Gonna Be The One
08 – Noah
09 – Retrospection
10 – Perennial
11 – On The Top
12 – Pit Of Consciousness
13 – Home Back
14 – Words of Wisdom
15 – Pisces
16 – Captain Clock
17 – Outro
Das „Intro” führt in die bekanntesten Melodien der Superhits der Band ein, wir hören den Jubel des Publikums und Jinjer bauen immens Spannung auf, dies war hörbar ein dramatischer Konzertauftakt. Weiter geht’s recht gechillt mit „Teacher, Teacher“, einem der ältesten Hits der Band, der zuerst recht entspannt anläuft. Doch mittendrin geht die Post ab und üblicherweise wird hier im Publikum der erste Circle Pit gestartet. Den müssen wir uns beim Anhören des Live-Albums vor dem inneren Auge vorstellen…
Richtig wild geht mit „Sit Stay Roll Over“ weiter, in dem Frontfrau Tatiana Shmailyuk ihre heiseren Screams auspackt und zum Refrain mit ihren mittlerweile berühmten rasend schnellen Wechsel zur Klarstimme beeindruckt. Auch geben sich hier Drummer Vladislav Ulasevish und Basser Eugene Abdukhanov ein irres Batttle.
Ein Hit jagt den nächsten, nach dem etwas ruhigeren Song „Ape“ – ja, es ist Jinjer, da wird es eigentlich nie wirklich ruhig, aber hier ist mal das Grundtempo reduzierter im Vergleich – folgt „Judgement (& Punishment)“ mit einer Glanzdarbietung dessen, was die Band als „Groove Metal“ etabliert hat. In den Strophen grooven Jinjer im Reggae ab, zeigen so nicht nur an ihren Instrumenten sondern auch Tatiana mit warmen, souligen Vocals ihre Wandelbarkeit. Im Hintergrund hören wir das Publikum lautstark mitsingen.
Das erste Drittel beginnt mit einem Lieblingssong aller Jinjer-Fans, „I Speak Astronomy“, welches das Publikum bereits an den ersten sphärischen Sounds des Intros erkennt und mit hörbarer Begeisterung quittiert. Wir freuen uns, dass dieser Hammersong nun in einer astreinen Live-Version verewigt ist, andererseits wäre es auch keine vollständige Setlist gewesen, wenn dieses Lied nicht dabei gewesen wäre. Immerhin haben Jinjer mit „I Speak Astronomy“ ihre ersten großen Erfolge verbucht und die Metal-Welt erobert. Mit über 9 Millionen Views ist das dazugehörige, aufwändig produzierte, hochgradig ästhetische Video das zweitbeliebteste von Jinjer auf YouTube. In „I Speak Astronomy“ zeigt Tatiana Shmailyuk ganz besonders imponierend ihren großen Stimmumfang und die verschiedenen Gesangstechniken. Großer Jubel vom Publikum und von uns, die wir faul auf der Couch sitzen, während wir zuhören, wie die Leute in Melbourne abgefeiert haben. „Who Is Gonna Be The One“ ist eine Anheizernummern der Band. „Noah“ ist eines der neuesten Lieder, vom aktuellsten Album Macro (2019), und frech kündigt Tatiana an, dass sie in den Lyrics die Geschichte aus der Bibel umschreiben will. Wenn sie meint! In diesem aktuelleren Stück merkt man umso mehr, wie sehr sich die Band als Einheit eingespielt hat und ihren eigenständigen Stilmix entwickelt hat, doch überraschen Jinjer stets auf’s Neue. Gitarrist Roman Ibramchalilow darf in „Noah“ gegen Ende in Tremolos in Richtung Black Metal gehen. Im Intro von „Retrospection“ lässt er dagegen perlende Fingerpickings Tatianas weichen Gesang (in ihrer Muttersprache Ukrainisch!) begleiten, bevor es wieder bretthart und basslastig weitergeht. Ein weiteres unumgängliches Highlight spielen Jinjer im Anschluss, das lyrische, nachdenkliche, musikalisch spannungsreiche „Perennial“. Tiefgehende Zeilen über Verfall und Wiedergeburt, ergreifend inmitten der Pandemie: „This autumn feels like funeral to me, the longest song of grief, and not for what has passed, but for what shall last.” Es war meine nicht so geheime Hoffnung, dass „Perennial” auf dem Live-Album vertreten sein wird, es ist vom Gesang her eine der stärksten Darbietungen von Tatiana, zum Ende erreicht sie atemberaubende Höhen und wechselt über zu extrem tiefen Growls, nur um dann beeindruckenderweise in harschen Vocals die Melodien weiter zu singen. Und auch die melancholischen Arrangements in „Perennial“ gehen unter die Haut. Bevor Jinjer einen weiteren Song aus dem neueren Repertoire präsentieren, „On The Top“, hält die Sängerin eine Ansprache, in der sie kurz darauf hinweist, wie angespannt und zum Teil gefährlich die Situation in ihrem Heimatland ist. Immerhin herrschen seit der fragwürdigen Annexion der Krim in der Ukraine in einigen Regionen Kriegszustände. In der Tat sagten Jinjer einmal in einem Interview, dass sie deshalb seit Jahren ununterbrochen touren, weil sie nicht in ihre Heimat zurück können … in „On The Top“ , wieder ein Lied mit trister Grundstimmung, werden die vier Ausnahmemusiker*innen von einem warmherzigen Publikum aufgefangen, welches in den Refrains unisono mit der Band mitsingt. Umso erstaunlicher, da dieses das allererste Konzert der Band in Melbourne war! In diesem Lied kommt auch wieder ganz besonders der schnarrende, gestoppte, djentige Bass von Eugene Abdukhanov zum Tragen. Mit seinem rhythmusbetonten, doch virtuosen Spiel hat er seit Jahren nachhaltig den Metal an sich geprägt, viele andere Bands in völlig unterschiedlichen Subgenres probieren nun prägnantere Bassriffs und ähnliche Effekte aus. Aller guten Dinge sind drei, denn nun folgen mit „Pit Of Consciousness“ und „Home Back“ noch weitere Auskopplungen aus Macro. Am Jubel aus der Menge ist festzustellen, dass dieser Langspieler international Wellen geschlagen hat. In „Home Back“ verwirren uns Jinjer mit einem kurzen Bossa Nova – Intermezzo, das Herumexperimentieren mit artfremden Musikgenres gehört mittlerweile zum Musikkonzept der Band. Alles was in irgendeiner Form rhythmisch interessant ist und spannende Übergänge verspricht, wird zum Groove Metal kombiniert. „Home Back“ spielt dazu auch noch mit den Gefühlen der Zuhörer*innen, mal abgrundtief böse, dreckig, depressiv, dann der genannte Ausflug in funkige gute Laune. Um die Fans nicht zu sehr verrückt zu machen, bringen Jinjer als letzten Song den altbekannten und gewohnt energiegeladenen, wesentlich straighteren, Track „Words Of Wisdom“ vom Album King Of Everything (2016) zurück. Als Zugaben verwöhnen uns Jinjer noch mit dem grandiosen Hit „Pisces“ und dem Nostalgie erregenden „Captain Clock“ aus den Anfangsjahren der Band. „Pisces“ in der akustischen Studioversion ist das am meisten gesehene Musikvideo der Band – und wird immer wieder gerne von YouTubern in React-Videos rezipiert, da die Band in diesem Lied zum ersten Mal mit der extremen Wandelbarkeit ihrer charismatischen Sängerin überrascht hatte. Ihre warme, samtige Klarstimme, die weichen Gitarrenklängen und entspannten Rolls auf der Snare lassen uns eine Ballade erwarten. Bis Tatiana mit ihren aggressiven Growls diesen ersten Eindruck brutal zerstört und die Herzen der beinhartesten Kerle und Kerlinnen erobert. „Pisces“ begleitet die Band schon lange, und doch schaffen Jinjer es in dieser Version, diesen lange geliebten und performten Song noch einmal mit neuer Frische auf die Bühne zu bringen. Ein letztes Mal hören wir den lauten Chor der Fans … Den Konzertabend beenden Jinjer mit „Captain Clock“, geben ein letztes Mal Vollgas. Was für eine Show.
Insgesamt ist Alive In Melbourne hervorragend abgemischt. Sorgfältig fügen sich die Ansagen an die Menge, die Musik und die Dynamik der Fans harmonisch in den Klangteppich ein. Das Live-Album wird sowohl Studioaufnahmen-Fetischisten als auch Konzertgänger gleichermaßen begeistern. Jinjer haben ihren ersten Alben ein würdiges Denkmal gesetzt und den Status Quo der Band festgehalten. Gleichzeitig, durch das sorgfältige Mixing, huldigen Jinjer ihren treuen Fans, die durch ihre Reaktivität, ihr leidenschaftliches Mitsingen und ihre wilden Mosh Pits essentiell zum Live-Erlebnis eines Jinjer-Konzerts beitragen. Der einzige Kritikpunkt, den SKULL NEWS an Alive In Melbourne hat, ist dass das Label sich nicht für eine Blue-ray/ DVD-Version entschieden hat. Jinjer muss man live sehen, nicht nur hören! Uns fehlt es, die powervolle Performance der zierlichen Sängerin Tatiana mitzuerleben, wie sie auf dem Bühnenrand steht und die Menschenmenge anheizt und Wall of Death und Mosh Pits kommandiert. Wir wollen Romans Finger über das Griffbrett seiner Gitarre fliegen sehen. Jinjer sind nicht nur geniale Musik, sondern auch visuell ein Faszinosum, man will ihre Hände sehen, wie sie die Grooves und Sounds produzieren. Vielleicht hilft ihnen das Live Album Alive In Melbourne dabei, genügend Fame zu bekommen, dass beim nächsten Mal eine Live-Videoaufnahme auf Blue-ray/DVD herausspringt… Immerhin wurden ein paar der Lieder auch gefilmt und als Live-Videos veröffentlicht, leider nicht der komplette Gig! Vor ein bisschen mehr als einem Jahr brachten Jinjer zwar einen offiziellen Konzertmitschnitt auf YouTube heraus, aber eben noch nicht als eine käuflich zu erwerbende physische Kopie.
Zumindest können wir nun Alive In Melbourne in den Händen halten und uns über diesen Meilenstein freuen. Die Setlist ist fast erschöpfend lang, ein wahres Best Of der Bandgeschichte von Jinjer, doch jeder Song ist mitreißend, spannend, und die Reihenfolge abwechslungsreich, sodass das Album schneller vorbei ist, als man denkt, und man gleich Lust bekommt, es noch einmal zu hören. Alive In Melbourne gehört in das Regal von jedem, der richtig guten, progressiven, innovativen Metal mag.
UPDATE vom 23. November 2020: Mittlerweile hat sich das Label Napalm Records dazu entschieden, die Konzertaufnahme offiziell auf YouTube zu veröffentlichen:
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