Review: AUTUMN TEARS – The Glow Of Desperation
„Neoklassik“ bezeichnet den Stil von Autumn Tears. Und der eine oder andere geneigte Leser mag jetzt zusammenzucken, hat er doch Orchestergrabengetöse und überdrehte Sopranistinnen, die mit dem dreigestrichenen C die heimische Vitrine in Schutt und Asche schmettern, vor seinem geistigen Auge und im Ohr. Drama, Baby, Drama!
Wir haben es mit dem 1995 von Erika Tandy und Ted Tringo in Massachusetts gegründeten Projekt in der aktuellen Fassung durchaus mit Musiker*innen zu tun, die wir uns sicherlich auch sehr gut als Zeitgenossen eines Wolfgang Amadeus Mozart hätten vorstellen können. Autumn Tears funktioniert in der Ära des höfischen Wien sicherlich ebenso gut wie in der Neuzeit.
Tracklist: Autumn Tears The Glow Of Desperation (8. März 2021)
01 – The Shadow of Perseverance
02 – Cast Your Eyes To Behold Me
03 – For Only A Day
04 – Reunion
05 – For You The Nameless… We Sing
06 – Knowing All Has Been Decided
07 – How Still The Day
08 – We Can Almost Hear Them
09 – Succumb
10 – Throw It Over
11 – The Voice Of Spring
12 – Wordless Waltz
13 – Stasis
14 – Human Artifact
15 – The Glow Of Desperation
Auch wenn die Veröffentlichung mittlerweile schon einige Monate zurückliegt und bereits das Nachfolgealbum in den Startlöchern steht, legen wir euch das Album – und Autumn Tears insbesondere – ans Herz. Auf die gut 64 Minuten Musik kann sich auch gut einlassen, wer normalerweise im Bereich der E-Musik nicht weiter verortbar ist, aber einfach einen sehr entspannenden Flow haben möchte, um darauf ab- und wegzudriften. Vor dem inneren Auge entstehen märchenhafte Bilder von nebelverhangenen Herbstwäldern, so wie es die DarkFolk/Ambient-Szene so wunderbar versteht.
Bereits beim Einsteiger, „The Shadow Of Perseverance“, ziehen Autumn Tears alle Register. Pianoklänge, orientalisch anmutende Streicher, Stimmen zwischen Tag und Traum steigen wie Rauchschwaden in die Höhe und verbinden sich miteinander; durchbrochen von urweiblichen rhythmischen Atemstößen und kräftigem Sopran, um vollends instrumental auszuklingen. Nennen wir es trotz der Stimmen „instrumental“, da keine Worte intoniert werden. So schlicht, so urtümlich, wie eine vage Erinnerung an graue Vorzeiten, an frühkultische Rituale – grandios.
Danach bewegen sich Autumn Tears wieder eher in angestammten Gewässern. Weiche Streichersätze bilden den Teppich für harmonische Gesänge, wobei sich Solo- und Chorpassagen abwechseln und die Frauenstimmen dominieren. Ab dem fünften Track, „For You The Nameless…. We Sing“ haben wir auch männliche Sänger an den lead vocals.
Autumn Tears schaffen es, an die Ohrwurmpassagen von Andrew Lloyd Webbers Musicalklassikern zu erinnern; lyrische Arien wie „How Still the Day“ schmiegen sich an Ausflüge in die Melancholie wie „We Can Almost Hear Them“, und es gelingt das Kunststück, Sängerinnen mit so unterschiedlichen Charakteren und Stimmfärbungen zu einem harmonischen Ganzen zu vereinen, ob individuell in ihren Leads als auch gemeinsam in Chorälen. Die vorwiegend im eher getragenen Tempo angesiedelten Songs verbreiten wohlige Wärme und nutzen sich auch nach vielen Durchläufen nicht ab.
Leider wird es nicht möglich sein, dieses Projekt auf die Bühne zu bringen, da die einzelnen Musiker*innen über den halben Erdball verstreut leben, somit werden Autumn Tears nur im Studio – und die meisten Musiker*innen noch dazu über ihre Heimstudios – zum Leben erweckt. Welch eine Meisterleistung der Tontechnik, all diese Fäden zu einem organisch anmutenden Ganzen zu verknüpfen!
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