Review: SEVENTH STATION – Heal The Unhealed

Review: SEVENTH STATION – Heal The Unhealed

SEVENTH STATION sind endlich mit ihrem zweiten Longplayer zurück! Und der Weg bis zur Veröffentlichung war steinig. Der Nachfolger des 2016 erschienenen Debütalbums Between Life and Dreams des slowenisch-türkisch-israelischen Kollektivs ist seit dem Frühjahr 2020 im Kasten, nachdem Sänger Davidavi „Vidi“ Dolev direkt nach einem Auftritt mit Gunned Down Horses in Wiener Neustadt nach Ljubljana geflogen war, um die Vocaltracks einzusingen. Justament zu dieser Zeit wurden im Zuge der beginnenden Pandemie alle Schotten heruntergelassen, immer mehr Flughäfen waren dicht…, und die Rückreise nach Israel gestaltete sich entsprechend abenteuerlich.

Nicht weniger abenteuerlich und spannend ist Heal the Unhealed geraten.

Wie bei Between Life and Dreams toben sich die Musiker mit einer extremeren Form des Progressive Metal aus und sparen auch hier nicht mit akustischen Schnipseln, Ausschnitten von historischen Reden, so daß man sich fühlt wie mitten in einer Wochenschau wieder aufgewacht und völlig irritiert, welches Jahr gerade geschrieben wird. Und auch wenn hier ebenso Grenzen und Möglichkeiten ausgelotet werden wie beim Erstling, so wirkt Heal the Unhealed runder, ausgewogener.

Tracklist: Seventh Station Heal the Unhealed (7. November 2022)

1. Unspoken Thoughts (07:37)
2. Seven Digits (07:36)
3. The Heart of a Nation (Nadia) (12:27)
4. The Ruthless Koba (05:19)
5. All Hail the Moustache (12:04)
6. A Final Bow (13:41)
Album Length: 58:47

Albumdesign (hier zeichnet die hochtalentierte Tattoo Künstlerin Tal Asulin verantwortlich) und die bisher veröffentlichten Videoclips sind im Übrigen keine Anspielung auf die aktuelle politische Lage bezüglich des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, dazu liegt die Entstehung des Albums und auch des „All Hail the Moustache“-Clips zu lange zurück. Exakt vor 32 Jahren, am 7. November 1990, hat der kleine Dmitri Alperovich, inzwischen Komponist, Arrangeur, Texter und Gitarrist bei SEVENTH STATION, zusammen mit seinen Eltern die damalige Sowjetrepublik Belarus, wo er in Minsk geboren wurde und seine ersten Lebensjahre verbrachte, in Richtung Israel verlassen, bevor es ihn vor einigen Jahren nach Slowenien verschlug. Wie war das Leben in der poststalinistischen, sterbenden Sowjetunion zum Ende des Kalten Krieges, auch wenn Klein Dmitri noch nicht viel selbst erlebt haben konnte – und welche Geister gehen heute noch um, da man Stalin trotz seiner nicht in Worte zu fassenden Verbrechen, dem Tod Millionen Sowjetbürger und Verelendung, immer noch Verklärung und Verehrung angedeihen läßt? Kann sich die Geschichte wiederholen?

„Ich habe viele verschiedene Umstände und Anpassungsprozesse für jedes Land durchlaufen – was nach all diesen bedeutenden Paradigmenwechseln auch zu Angst- und Panikattacken geführt hat. Heal The Unhealed ist eine persönliche Reflexion über diese Erfahrungen und die psychischen Zustände, die sie mit sich brachten, die von verschiedenen Charakteren zum Ausdruck gebracht werden, einschließlich der Hauptakteure der Bedingungen, die ich damals in der Sowjetunion hatte“, so Dmitri Alperovich.

Aber der Reihe nach.

Bereits das erste Stück, „Unspoken Thoughts“, zeigt auf, wohin die Reise bei diesem Album geht. Ein episches, instrumentales Intro aus einer sich wiederholenden Tonfolge wird mit klassischem Progressive Rock, fetten orchestralen Anwandlungen und rauschenden Orgeln immer wieder aufgegriffen, von heavy Girarrenriffs durchsetzt, von einem chirurgisch präzisen Drumming getragen und nach knapp zwei Minuten (!) um Vidis einsetzende Vocals ergänzt, die hier nicht einfach Lyrics herunterträllern, sondern streckenweise auf zwei Ebenen Klar- und Harshgesang einander begleitend und ergänzend kombinieren. Und immer wieder Rhythmus- und Stilwechsel, wobei das Stück immer mehr an Fahrt aufnimmt. Bäm und puh!

„Seven Digits“ startet so entspannt wie eine Easy-Listening-Bar-Jazz-Session, um dann unvermittelt in dramatische Heavyness umzukippen. Beschwörend und eindringlich, zwischen Growl und Flüstern, fast schon diabolisch, bewegt sich Vidi auf der akustischen Theaterbühne, um den Song sanft ausklingen zu lassen.

Die bereits im Lauf des Jahres veröffentlichen Singles „All Hail the Moustache“ und „The Heart of the Nation (Nadia)“ sind in den Albumversionen deutlich länger und detailreicher.

Auf den Gedanken, die Lebens- und Liebesgeschichte Stalins mit seiner zweiten Frau Nadia in eine Choreographie zu packen, muß man auch erst einmal kommen. Visuell wurde dies im Videoclip meisterhaft von Maya Popova und Anatoly Shenfeld umgesetzt. Die gesamte emotionale Bandbreite ziehen SEVENTH STATION auch im Song zu „The Heart of a Nation (Nadia)“ mit einem wilden Ritt von filmischer Suspense über liebliche Romantikpassagen, Choralsätzen, Metal und zarten klassisch-spanischen Gitarren zu einem alptraumhaften Fadeout. Ganz großes Kino!

Sowohl Dmitri als auch Keyboarder Eren Başbuğ haben einen klassisch-akademischen Hintergrund, der von der Komplexität der Kompositionen und Arrangements und der Fertigkeiten an den Instrumenten wahrlich nicht zu verleugnen ist. Immer wieder schimmern klassisch inspirierte Elemente durch, und im 4. Track, „Ruthless Koba“, glänzt ein Stück des anderen kongenialen Dmitri, nämlich Schostakovitsch, in neuem Arrangement. Wikipedia schreibt zum Komponisten:

>Schostakowitsch ist neben Igor Strawinski (1882 –1971), Sergei Prokofjew (1891–1953), Sergei Rachmaninow (1873–1943) und Alexander Skrjabin (1872–1915) der bedeutendste Komponist Russlands im 20. Jahrhundert und war außerordentlich produktiv und vielseitig. Er schrieb dem Regime von Josef Stalin Hymnen und blieb gleichzeitig auf Distanz zum stalinistischen System, welches ihn drangsalierte und jahrelang in Todesfurcht hielt. „Um die Geschichte unseres Landes zwischen 1930 und 1970 nachzuleben, reicht es aus, die Sinfonien von Schostakowitsch zu hören“, schrieb die Wochenzeitung Moskowskije Nowosti. Der Cellist Mstislaw Rostopowitsch sah im sinfonischen Schaffen Schostakowitschs eine „Geheimgeschichte Russlands“, und Gottfried Blumenstein bezeichnet sein Werk als „apokalyptischen Soundtrack zum 20. Jahrhundert“.<

Dmitri meint hierzu: „Der ursprüngliche Satz ist eine Beschreibung von Schostakowitsch über die Umstände und Bedingungen durch Stalins Bösartigkeit als Herrscher der Sowjetunion. Es war uns sehr wichtig, die Atmosphäre des Originalwerks darzustellen, also haben wir uns sehr bemüht, beides zu respektieren und durch die Arrangement-Entscheidungen zu zelebrieren. Koba war der Spitzname, den Stalin von seinen engen Freunden gegeben wurde, und der Name des Tracks ist ein Versuch, die Dualität zwischen dem „freundlichen“ Koba und dem rücksichtslosen Diktator zu zeigen.“

Die Vorlage zu „The Ruthless Koba“ – 2.Satz Allegro / ab Min. 23:09

Bei der völlig aberwitzigen Nummer zu „All Hail the Moustache“, deren durchgeknallter Videoclip die Veröffentlichung der Single bereits im Frühjahr begleitet hat, stellt sich schnell Verzückung ein. Eine Faustvoll Shrooms und einen unrund laufenden Rollercoaster zu kombinieren, ist eine ähnlich glorreiche Idee für eine alternative Realität der besonderen Art. Hier schmeißen alle Musiker entfesselt zusammen, was auch nur im entferntesten geschmissen werden kann, und das Harmloseste ist noch das Mörderriff am Anfang.

Zu guter Letzt wird es mit „A Final Bow“ fast noch feierlich. Das mit 13:42 deutlich längste Stück des Albums beginnt mit einem furiosen Katz- und Maus-Spiel zwischen Gitarre und Tasten, das von einer langen, getragenen, hymnenhaften Passage abgelöst wird, um wieder zu Katz und Maus zu wechseln und in sanften Pianoakkorden zu enden. Auch hinsichtlich Vidis facettenreicher Gesangsleistung, die den Vergleich zu Bruce Dickinson nicht zu scheuen braucht, aber bei den hohen Tönen nicht zum Air Raid verkommt, kommt der Gedanke auf, ob Iron Maiden bei einem solchen Epos nicht ähnlich klingen würden, hätten sie nicht irgendwann angefangen, um sich selbst zu kreisen und nur noch aufzubrechen, um in fernen Welten Königreiche zu retten.

Überhaupt Vidi! Auf Heal the Unhealed ergriff er die Gelegenheit, sich gesanglich ultimativ kreativ auszutoben:

„Ich wollte die richtige ‚Stimme‘ für die Texte finden und versuchte, Dmitris musikalische Ideen durch Surrealismus und Absurdes zum Ausdruck zu bringen. Textlich ging es also darum, die Panikattacken, die Dmitri zu beschreiben versuchte, durch das Licht von noch mehr zu verstärken harten und unverständlichen historischen Ereignissen. Dieses Album könnte durchaus ein progressiver Angriff aufs Ohr sein, sehr für Aufgeschlossene, überhaupt nicht für schwache Nerven. Musikalisch wählt dieses Album eher den langen Weg als die schnelle Befriedigung, aber bei gleichzeitig sehr befriedigend für diejenigen, die es schaffen, durch diesen ganzen Obstgarten zu gehen.“

Auch wenn er bei SUBTERRANEAN MASQUERADE als Vokalist, Texter und Rampensau auf der Bühne inzwischen unentbehrlich geworden ist, scheint er bei den eher abseits des Mainstream liegenden Projekten den notwendigen Ausgleich zu erhalten. No risk no fun. Und ja, verdammt – Mike Patton. Der gleiche Genpool, möchte man meinen, die gleiche kindliche Freude, sich ein „geht nicht – gibts nicht“ auf die Fahne zu schreiben. Leute, das ist die Wachablösung.

Heal the Unhealed wird denjenigen Freudentränen in die Augen treiben, die offen sind, sich auf Unkonventionelles einzulassen, und die brillante Musiker zu schätzen wissen, die sich abseits vom Kommerzdruck großer Labels kreativ bestmöglich zu verwirklichen wissen.

Das Album bekommt ihr digital oder als Vinyl (limitiert auf 100 Stück) bei Bandcamp oder auf der Website von SEVENTH STATION.

Viel Hintergrundgeplauder, das viele Einblicke in den Entstehungsprozeß des Albums und der Band als solche bietet

Wer im Dreiländereck lebt, kann sich Anfang Dezember SEVENTH STATION live ansehen:

8.12. Graz (AT) – Club Wakuum

9.12. Ljubljana (SI) – Orto Bar

10.12. Zagreb (CRO) – Hard Place

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Seventh Station auf Bandcamp

Seventh Station sind:

Dmitri Alperovich – Guitars

Davidavi (Vidi) Dolev – Vocals

Eren Basbug – Keyboards

Jure Lopatic – Bass

Grega Plamberger – Drums

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