Review: SCARDUST „Souls“

Was passiert, wenn musikalische Hochbegabung auf kreatives Chaos trifft? SCARDUST geben mit ihrem neuen Album Souls dazu eine Antwort, oder mehrere. Mit vielen Ausrufezeichen und fett markiert. Der Sound von SCARDUST bleibt auch im dritten Langspieler ebenso facettenreich, wie anstrengend. Es ist ein Album, welches sich wie ein Puzzle in 4D mit einem abstrakten Motiv präsentiert. Beeindruckend, teils einschüchternd, streckenweise weiß man beim Spielen nicht, was aus dem Gebilde einmal werden soll. Doch irgendwie funktioniert SCARDUST dann doch und holt sich immer mehr Fans in der Prog Metal Community. Was macht SCARDUST also aus?!
Pyrofonie und Elegrowlanza
Was SCARDUST bereits in den ersten beiden Tracks des Albums abfeuern, ist wahrlich ein musiaklisches Feuerwerk, eine reinste Pyrofonie. Sie starten vielversprechend, komplex und clever verwoben, doch suche ich bald nach einem roten Faden. So richtig will ich mich in das Labyrinth an Tonalitäts- und Rhythmuswechseln noch nicht verlieren. Zu verwirrend kommt der Einstieg daher, als dass ich gleich wüsste, wohin die Reise gehen wird. So gilt bei „Long Forgotten Song“ Nomen est Omen, denn nach mehrmaligem Hören habe ich leider nichts Griffiges davon in Erinnerung. Zusammen mit der Single „My Haven“ funktioniert er jedoch wunderbar. Ich bin begeistert, wie smooth sich die neuen Bandmitglieder einfügen und freue mich, dass der Chor HELLSCORE gewohnt dramatisch und bombastisch herüberkommt. Gesanglich bietet Noa Gruman Vocal-Akrobatik auf Hochleistungsniveau, scheint jedoch noch nicht ins Cardio gegangen zu sein. In „RIP“ – und in fast allen Songs phasenweise – stapelt die Frontfrau Gesangstechniken, Klangfarben und Feelings übereinander, als müsste sie ihr gesamtes Portfolio in nur dreieinhalb Minuten abliefern. Die ehemalige Studentin von NIGHTWISH-Sängerin Floor Jansen wirkt teils unter Druck, sich mit jeder Silbe beweisen zu müssen, als wolle sie ebenfalls einen Begriff in der Welt der Musik prägen, wie den berühmten „Floorgasm“. Jedoch brilliert Noa Gruman genau dann, wenn sie sich einmal zurücknimmt. Denn in den meisten Songs des Albums Souls „begeht“ die Charakterperformerin einen üblichen Fehlgriff, indem sie, anstatt die Melodiebögen gefällig zu Ende zu bringen, die Hauptphrase wiederholt, intensiviert, höher schraubt, bis Noas Goldstimme gestresst und bemüht klingt.
„Dazzling Darkness“ und „Unreachable“ sind hingegen meisterliche Beispiele für eine gelungene Soundkonstruktion: Magie trifft Struktur. Die Melodik besticht gerade wegen ihrer Subtilität und wegen ihrer sensiblen Stimmführung in „Dazzling Darkness“, nimmt auf nachvollziehbare Art an Intensität in „Unreachable“ zu. Wie auch beim vorigen Album scheinen SCARDUST erneut ihre Songs im Bündel geschrieben zu haben. In Souls ergeben stets zwei bis drei Lieder eine befriedigende, fantasieanregende Dynamik. Sobald aber das All zu Progige übernimmt, drohen die sassy jazzy Parts, beliebig zu wirken. Ein bisschen mehr Gefühl bei der Dosierung täte dem Ganzen gut. In „Unreachable“ verführen mich die orientalischen Riffs und Instrumente, welche sich schlüssig in den insgesamt eher sperrigen Sound einfügen. Das TEL AVIV ORCHESTRA hebt das Lied in himmlische Sphären, was für ein Hörgenuss!
Sehnlich erhoffte Erholung für das aufgewühlte Gemüt bietet das cineastisch anmutende Intermezzo „End of The World“, bei welchem die außergewöhnliche Harmonie des Chors HELLSCORE mit dem Streicherarrangement Ruhe ins Album bringt und ohne jede Worte eine Geschichte vermag zu erzählen.
Für mich ist „Searing Echoes“ ein Highlight, da Noa Gruman mit ihren gewollt eleganten und zarten Vocals verzaubert, welche ebenso emotional wirken, wie die Violine gespielt von niemand Geringerem als Ally Storch (Subway To Sally). Beide stehen mit ihrem feenhaften Singsang in starkem Kontrast zur wechselhaften, komplexen Musik, während sich zunehmend die Stimmung in eine nie dagewesene Dunkelheit hineindreht. Die alptraumhafte Atmosphäre erinnert mich an die Musik und das Wirken der schwedischen Band Ghost und hinterlässt Eindruck.
Die „Touch of Life“-Trilogie am Ende des Albums nickt anerkennend in Richtung der Vorbilder EPICA: Progressive Protzerei und Drama werden von Gastsänger Ross Jennings‘ (HAKEN) glasklarer, voller Stimme im Widerspruch zu Noa Grumans tiefen gutturalen Parts dynamisch vorangebracht. Während Ross seine Melodiephrasen griffig beenden kann, bricht die Leadsängerin immer wieder mit unseren Erwartungen. Noa Gruman verkörpert Elegrowlanza in Perfektion, hält uns hin, reibt uns auf. Atemlos geht es über in „Touch of Life 2- Dance of Creation“, was ein überraschender Liebling auf dem Album ist. Frech, ausgelassen, spielen Band und Sängerin mit jeder einzelnen Note, Noa wirkt zum ersten Mal gelöst, nicht angespannt, und gibt den Ton an, anstatt dem Song hinterher zu hetzen. Ohne wirkliche Lyrics sagt dieser Song so unendlich viel mehr über SCARDUST als Idee und über Noa als Künstlerin aus, als drei ganze Studioalben zuvor.
„Touch of Life 3 – King of Insanity“ feuert abschließend aus allen Rohren. Ein musikalisches Feuerwerk aus den Best-Of-Melodien von SCARDUST bietet ein fulminantes Ende, dem dennoch eine wichtige Sache fehlt: Fokus.
Virtuose Orientierungsschwäche
Das neue Album Souls der israelischen Band SCARDUST ist erneut eine musikalische Achterbahnfahrt. Zwar sitzt jeder Ton, denn die Virtuosität der Bandmitglieder ist unbestritten. Doch wer non stop immer alles gibt, riskiert, dass die Zuhörenden abschweifen. SCARDUST wirken weiterhin schwer greifbar und ihr Markenzeichen bleibt ihre Unvorhersehbarkeit, was gleichermaßen faszinieren wie anstrengen kann. Souls brilliert jedoch abermals mit außergewöhnlichen Ideen und musikalischer Finesse, der Chor erfüllt den Klangraum der Band in einer Weise, dass HELLSCORE mehr als nur Background liefern. Wer bereit ist, sich auf das Abenteuer einzulassen, wird mit Innovation pur belohnt. Grundsätzlich sprechen SCARDUST Fans von EPICA, NIGHTWISH oder DREAM THEATER an, sollten jedoch von allen probegehört werden, die etwas Frisches, Inspiriertes und im besten Sinne Abwegiges suchen.
Tracklist: SCARDUST Souls (18. Juli 2025)
1. Long Forgotten Song
2. My Haven
3. RIP
4. Dazzling Darkness
5. Unreachable (feat. TLV Orchestra)
6. End Of The World
7. Searing Echoes (feat. Ally Storch)
8. Touch Of Life I – In Your Eyes (feat. Ross Jennings)
9. Touch Of Life II – Dance Of Creation
10. Touch Of Life III – King Of Insanity (feat. Ross Jennings)