Review: RUUMISTO – Nälkäjärvi

Review: RUUMISTO – Nälkäjärvi
Ruumisto

Ruumisto sind ein Dark Ambient / Dark Folk Duo aus Nordfinnland, das vor allem von der Wildnis und von der Geschichte und Tradition ihres Heimatlandes inspirierte Klanglandschaften produziert. Ihre vorigen Alben Saatto ja syntymä (2019) beziehungsweise EPs Sysimaat (2018) und Sotakesä (2017) „erzählen“ uns durch ihre Mischung aus Synthesizer-Sounds, Aufnahmen aus der Natur, Verbindung folklorischer Instrumente und Melodien mit modernen elektronischen Instrumenten und Elementen aus Rock und Ambient Music über reale historische Ereignisse wie dem Winterkrieg, Hunger, und Konflikte. Oder über die Vergänglichkeit des Menschen, dargestellt durch den Wechsel der Jahreszeiten im finnischen Wald – die Alben von Ruumisto sind immer eine musikalische Entdeckungsreise, doch besonders gut gefällt mir Saatto ja syntymä, wegen der eingängigen folklorigen Lieder und der tiefsinnigen Songtexte. Umso mehr war ich gespannt, als Ruumisto vor ein paar Monaten ein neues Album ankündigten. Der Titel Nälkäjärvi heißt übersetzt „See des Hungers“, da war mir klar, dass es erneut ein dunkles, schaurig-schönes Album werden wird. Meine Gedanken dazu und ein paart Hintergründe stelle ich euch hier vor.

Ruumisto Nälkäjärvi

Tracklist: Ruumisto Nälkäjärvi (1. Oktober 2021, Naturmacht Productions)

01 – Hautaterva

02 – Ämmä

03 – Nuas

04 – Vainajien varvikko

05 – Koston lieskat

06 – Talvi 1867

07 – Syli

08 – Rukajärvi – Смерть души

09 – Havujen varjoon

Ruumistos neues Album Nälkäjärvi ist der Region Kainuu in Nordfinnland gewidmet. Sie liegt nahe der russischen Grenze und die Landschaften dort sind von endloser Wildnis aus undurchdringlichen Wäldern und hunderten Seen geprägt. Diese Natur spiegelt sich in der Musik von Ruumisto wider, immer nutzen Ruumisto eingespielte Naturgeräusche, wie im Wind rauschende Bäume, Tiere oder Wetterphänomene. Im neuen Album hören wir zu Beginn in den Liedern „Hautaterva“ und „Ämmä“ das charakteristische Knarren von Holzbooten und deren Ruder, die ins Wasser platschen. Es ist ein auditiver Anachronismus, da man heute doch überwiegend motorisiert auf den Seen unterwegs ist. Von Anfang an drückt also Nälkäjärvi die Einsamkeit aus, die enge Bindung zur Natur sowie die Verbundenheit zu den Traditionen. Denn die Region Kainuu ist auch die Heimat des Dichters Eino Leino (1878 – 1926) einem der bedeutendsten Poeten Finnlands, dem sogar ein Feiertag, an dessen Geburtstag, dem  6. Juli, gewidmet ist. Seine neoromantische Lyrik ist tief verwurzelt in Traditionen und Landschaften der Heimat, seine Texte spiegeln die weite und wilde finnische Natur wider, ebenso wie die Gepflogenheit des Geschichtenerzählens und Singens. Dies sind typische Motive, die wir auch aus der Musik von finnischen Bands wie Nightwish, Amorphis, Korpiklaani, kennen. So wichtig sind also diese Referenzen bis heute! Im 19. Jahrhundert wurde der Grundstein für „die finnische Kultur“ gelegt, auf die sich bis heute viele Künstler*innen beziehen und mit der sich viele Landsleute identifizieren: das Schaffen des großen finnischen Komponisten Jean Sibelius, die Maler Hugo Simberg und Akseli Gallen-Kallela, deren naiv ausdrucksstarke Malerei bis heute stilprägend ist, auch hat Elias Lönnrot vor allem in dieser Gegend Kainuu nach den traditionellen Erzählungen geforscht, die er später in Form des Kalevala zusammenstellt, was heute als das Nationalepos Finnlands angesehen wird und auf das sich nach wie vor unzählige Künstler*innen und Musiker*innen beziehen. Eino Leino war einer der wichtigsten Poeten des 19. Jahrhunderts, nicht nur wegen seiner eigenen, hervorragenden Dichtung, denn bei aller Heimatverbundenheit war Leino dennoch ein weltmännischer, international gebildeter Mann. Er hat Klassiker von Goethe, Corneille, Runeberg und anderen europäischen Meistern ins Finnische übersetzt, spielte also eine wichtige Rolle in der Anbindung der Kulturschaffenden Finnlands an die europäischen kulturellen Sphären. Und doch ist Eino Leino in Deutschland noch eher unbekannt, immerhin kam 2018 eine deutsch-finnische Lyriksammlung mit dem Titel Doch ein Lied steht über allen…  bearbeitet von Manfred Stern heraus. Den finnischen Schulkindern ist Leino dann doch vertrauter, nehme ich an. Seine ikonischen Texte werden auf dem neuen Album von Ruumisto verwendet und eingesprochen und dazu spielen Ruumisto auf der Akustikgitarre und auf dem Akkordeon traditionelle Melodien. Sie haben diesem großen Dichter in ihrem neuen Album ein Denkmal gesetzt, indem sie ausgewählte Gedichte Eino Leinos für ihre Lyrics verwenden und diese in den klanglichen Kontext setzten. In der Rezitation kommt die berühmte melodische Qualität der finnischen Sprache schön zur Geltung.

Ruumisto „Nuas“

Ruumistos Album Nälkäjärvi breitet eine cineastische Klanglandschaft vor uns aus, welche zeitgemäße elektronische, sphärische Sounds kunstvoll mit traditionellen akustischen Instrumenten – akustische Gitarren, Zithern, Fiedeln und Celli, Akkordeon -, mit Samples von Tritten in Tiefschnee, plätscherndem Wasser, Waldgeräuschen, verzerrten, wie durch ein altes Radio gesprochene Lyrikrezitation, zu einem Teppich verwebt. Besonders „schön“ im engeren Sinne finde ich den Song „Vainajien varvikko“: einerseits feierlich getragen, zugänglich und jedoch geheimnisvoll. Aber auch hier hören wir, dass das Dunkle, das Schreckliche irgendwo im Hintergrund lauert. Schließlich geht es thematisch in Nälkäjärvi um die Krisen der Region Kainuu, welche von schweren Hungersnöten betroffen war, aber auch Schauplatz von Kriegshandlungen des Großen Nordischen Krieges war. Diese Ereignisse haben tiefe Narben in der Seele der Finnen hinterlassen und an einigen Orten hat die Natur noch nicht geschafft, die Verwüstungen zu überdecken (hier dazu Tuomas Saukkonen von Wolfheart im Interview mit uns). Diese Traumata versuchen Ruumisto also musikalisch auszudrücken, und ich finde, dies gelingt ihnen hervorragend. Man muss das Album Nälkäjärvi also eher als ein musikalisches Hörspiel verstehen und sich auf das auditive Erlebnis einlassen, als es passiv im Hintergrund dudeln zu lassen: Die Sounds von eindrücklich knarzendem Frost und Schnee in unseren Ohren kündigt uns die schwermütigen Sujets des Albums an. Wie in den Liedern „Talvi 1867“ und „Syli“, welche von der großen Hungersnot des Winters 1867 erzählen, in der circa 15% der Bevölkerung in der Folge ungewöhnlich langer und kalter Winter und dadurch verheerten Ernten starben. Das Leid und die Not sind ins kollektive Gedächtnis des Landes eingegraben, die tiefsitzende Trauer, die Erbarmungslosigkeit der Natur, sind hörbar in diesen Liedern, schaurig schön zugleich. „Syli“ heißt „Schoß“, und obwohl es in diesem anderthalb Minuten Instrumentalstück keine Worte gibt, verstehen wir, worumes geht. Wir hören nur, wie dickes Eis aufgehackt wird und dann jemand ins Wasser taucht … in den Schoß der kalten Winterlandschaft zurückkehrt, eigentlich gibt es in diesem Stück auch keine Musik, sondern hauptsächlich Atmosphäre und Sounds – die jedoch eine ganze Geschichte erzählen.

Ruumisto

Eine fröhliche, fast tänzerische Melodie stimmen dann Ruumisto in „Rukajärvi – Смерть души“ an, obwohl der Titel auf ein weiteres dunkles Kapitel der finnischen Geschichte verweist: Die Gemeinde Rukajärvi am gleichnamigen See und ganz im Westen Kareliens, der von Russland und Finnland hart umkämpften Region, hat ebenfalls unter schlimmen Hungersnöten und Krieg gelitten. Von den Schweden, Finnen und Russen verwüstet, während Stalins Herrschaft wurden die Einwohner Rukajärvis im Rahmen der Großen Säuberung ermordet, haben die Menschen in dieser Gegend schwer gelitten. Daher vielleicht auch der russische Namensanteil im Songtitel, welcher übersetzt „Tod der Seele“ bedeutet. Noch heute ist der Verlust Kareliens an Russland eine offene Wunde in der Seele der Finnen – umso stärker ist der Kontrast zu Ruumistos fast fröhlicher Melodie bis zu etwa der Hälfte des Lieds „Rukajärvi – Смерть души“. Doch dann kommen bedrohliche Sounds hinzu, schräge, atonale E-Gitarrenklänge zerreißen die vorige Stimmung, der gesprochene Text klingt entfernt und grausig verzerrt, insgesamt lässt uns dieses Stück mit Beklemmung zurück. Tröstend umlullt uns dann zum Abschluss des Albums in „Havujen varjoon“ die zarte Melodie, auf der traditionellen Kantele auch in der traditionellen Weise gespielt, immer wieder zum Grundton zurückkehrend. Übersetzt heißt derTitel „Im Schatten der Nadelbäume“, doch brauchen wir die Lyrics nicht, um zu verstehen. Wir hören die Vögel singen, die Kantele-Melodie weckt Bilder vor dem inneren Auge von den ersten Strahlen der Frühlingssonne, die zwischen den Zweigen der Bäume glitzern, das rezitierte Gedicht spricht von tiefem Frieden. Nach der Härte des Winters ist es wieder Frühling geworden, und so schließt sich der Kreis: Zu Beginn des Albums lauschen wir den Geräuschen von Booten auf dem Wasser, von Pferden und Holzfällerarbeiten, für die die Waldregionen wie eben Kainuu und Karelien bekannt sind. Im Verlauf des Albums erstarrt der Gesang der Vögel und die Naturgeräusche nehmen uns mit in den Winter, am Schluss bringen uns Ruumisto in die Wärme des Frühjahrs zurück. Dann hören wir einen Kirchenchor in der Ferne – ist es der ewige Frieden? Sind wir Zeugen einer Beerdigung? Die Instrumente verschwinden nach und nach, Ruumisto schließen mit Vogelgesang dieses sehr melancholische Album ab.

Es ist, wenn man sich mit den historischen Ereignissen beschäftigt, auf die sie sich in Nälkäjärvi beziehen, ein schwer verdauliches Album, eher eine musikalische, klangliche Erzählung über die unnachgiebige Wildnis, die Gräuel der Menschen, die dieses Land geprägt haben, aber auch eine Hommage an die Kultur und Tradition. Wenn man sich nicht mit der Lyrik und den Hintergründen beschäftigt, verpasst man zwar das Anliegen Ruumistos, kann aber vielleicht mehr die Stimmung „genießen“ und einfach die Musik auf sich wirken lassen. Nälkäjärvi reiht sich damit ein in die vorigen Werke des Duos, in denen es ebenfalls um düstere Themen wie den Winterkrieg und Tod ging, die schöne wie gefährliche Natur. Doch ist das neue Album sowohl thematisch als auch kompositorisch noch viel komplexer. Es ist erneut ein spannendes Klangerlebnis, auf das man sich einlassen sollte. Nälkäjärvi von Ruumisto ist ein Muss für Leute wie mich, die sich sehr für die dieses ferne, nordische Land interessieren, und dessen Kultur und Gesellschaft verstehen wollen. Aber für alle anderen ist es wie ein Hörspiel und auf jeden Fall einen Ausflug in die klanglichen Weiten wert, die Ruumisto auf Nälkäjärvi eröffnen.

Das Album Nälkäjärvi und alle früheren Werke von Ruumisto könnt ihr auf deren Bandcamp vorbestellen bzw. anhören – wenn es euch gefällt, lasst doch der Band ein paar Euro zukommen!

Auf der Webseite des Labels Naturmacht Productions könnt ihr Merchandise der Band sowie physische Kopien bestellen (ich persönlich finde lustig, dass die alten Alben für einen satanischen Preis zu bekommen sind).

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