Review WOHNZIMMERTOURISTEN – Eine Leopardenhose macht dich nicht sofort exotisch!
Wir hatten euch die Wohnzimmertouristen bereits verschiedentlich näher gebracht – so beispielsweise letzten Sommer mit der ersten Single aus dem Album. Unlängst wurde die dritte Single veröffentlicht.
Seit dem 20.03.2020 liegt auch endlich das bei D7/7us media Group GmbH erschienene Debutalbum vor. Und das hat es gewaltig in sich. So ungewöhnlich wie der Bandname, so schräg auch der Albumtitel, alles frei nach dem Motto, wo gibt es das Zeug zu kaufen, das die Fantasie dermaßen befeuert…?
Und dies setzt sich auch in den einzelnen Songs fort. Wir haben hier 12 Titel auf insgesamt knapp über 47 Minuten Spielzeit verteilt –
01 – Nicht alles Gold
02 – Miststück
03 – Jedes Jahr
04 – Heimatstadt
05 – Ein Päckchen Glück
06 – Ich bin ich
07 – Alles Geld hat seinen Preis
08 – Lied von der Liebe
09 – Keine Chance
10 – In Filmen
11 – Zeitenwende
12 – Wir
Und so ungewöhnlich wie die Namen, sind auch die Inhalte der Songs. Am Puls der Zeit, Momentaufnahmen, der Blick aufs Wesentliche, abseits der Klischeeparaden rund um Herz, Schmerz und Herzschmerz.
Den Auftakt macht in chillig-souliger Manier „Nicht alles Gold“, eine Abrechnung mit den Oberflächlichkeiten der Zeit. Du bist kein Vamp durch die High Heels, du bist kein Punk mit einer bunten Strähne im Haar – sei durch und durch authentisch. Biedere dich nicht an. Köstlich die Zeile „…ein zwischen beide Schultern hochgerutschtes Arschgeweih / siehst du selber nie, dem Rest geht dein Geweih am Arsch vorbei“. So isses. Tu Dinge aus vollem, nie aus halbem Herzen, nicht wegen Clicks und Likes oder um gemocht zu werden. Oder um jemanden zu beeindrucken. Klare Vorgabe der Wohnzimmertouristen.
Danach drehen die Wohnzimmertouristen mit treibendem Discobeat auf und legen an Tempo zu. „Miststück“ behandelt ein ähnliches Thema, mehr Schein als Sein, diesmal mit Blick auf eine manipulative Person, die egoistisch und skrupellos durchs Leben und über Leichen geht, der nichts heilig ist außer ihrer eigenen Wenigkeit. Marina läßt ihre Stimme in den ruhigeren und auch den lauteren Passagen richtig schön von der Kette und zeigt ihre beeindruckende Bandbreite.
„Jedes Jahr“ kommt ausgesprochen melancholisch daher und spiegelt sehr schön die alljährliche Wehmut an Silvester wider. Pläne schmieden für das kommende Jahr, gute Vorsätze fassen – und alles irgendwann wieder fahren lassen, bis das Spielchen von vorne beginnt.
„Heimatstadt“, die zweite Single der Wohnzimmertouristen, spricht allen aus dem Herzen, die aus dem Ort ihrer Kindheit weggegangen sind. Wer kennt es nicht, das Gefühl, wenn man bei einem Besuch die alten Wege läuft – wo die Freunde lebten, wo man zur Schule ging… was hat sich verändert? Jedermanns persönliche Zeitreise. Der Song fängt schön langsam an und entfaltet im Mid-Tempo seine ganze Kraft. Powerballade vom feinsten!
Eine Hymne an positives Denken ist „Ein Päckchen Glück“. Hier komme ich! Und nichts hält mich auf!
„Ich bin ich“ greift ein wenig das Einstiegsstück wieder auf, authentisch sein zu wollen und sich nicht zu verbiegen, um anderen zu gefallen. Vor allem nicht „Richtern“ wie Klum oder Bohlen zuliebe, die sich zum Maß aller Dinge machen. Du bist perfekt so, wie du bist – vergleiche dich nicht mit anderen. Es wird bluesig, hüftwiegend. Die Wohnzimmertouristen zeigen, daß sie mehr beherrschen als den klassischen Deutschpop.
Thematisch schlägt auch das nächste Stück, „Alles Geld hat seinen Preis“, in eine ähnliche Kerbe. Das make it or break it im Showgeschäft, das Feilen an einem austauschbaren Produkt, das ein hoffnungsvoller Künstler eigentlich nicht sein möchte, aber übergestülpt bekommt, damit man ihn vermarkten kann. Oder ihm dieses zumindest einzureden versucht. Ex und hopp, du kannst deine Seele für ein bißchen Fortune & Fame verticken, und wenn du nicht brav bist, ziehen wir einfach die nächste Barbie auf die Bühne. Hier wird es funky, die Nummer ist sehr tanzbar und wird sicherlich auch bei den bevorstehenden Konzerten der Wohnzimmertouristen ein Selbstläufer.
Das „Lied von der Liebe“ ist leider selbst 2020 noch aktuell und nötig; auch in vermeintlich aufgeklärten und freien Nationen wird noch drauf geschielt, wen du liebst, werden klischeebedingt maskuline Sportarten wie Fußball immer noch mit dem Makel versehen, daß Schwule weicheiige Waschlappen sind und mehr oder minder prominente Fußballer mit Scheinpartnerinnen versorgt, damit sie ihrem Job ohne Probleme nachgehen können (wobei offene Homosexualität bei Frauen kein Problem zu sein scheint). Zum Videoclip gibt es eine schöne Geschichte, hier in eigenen Worten der Wohnzimmertouristen erzählt: „Das Video wurde von einem Zeichner in Pakistan erstellt, der wirklich hervorragende Lyric Videos kreiert. Zu seinem Schutz, nennen wir keinen Namen. In Pakistan steht nämlich Gefängnisstrafe auf Homosexualität von 2 Jahren bis zu lebenslänglich. Und genau darum geht es in unserem Song: Um die Liebe und zwar egal zwischen welchen Menschen!
Also musste unser Video unter komplettem Verschluss und Ausschluss jeglicher Mitwisser und der Öffentlichkeit fertiggestellt und durch ein komplexes Tunnelsystem außer Landes geschafft werden.
Der Texter höchstpersönlich hat es auf der anderen Seite entgegengenommen und durch den Nahen Osten geschleust, um schließlich unter Einsatz seines Lebens mit einem kleinen Kahn, teils rudernd, teils schwimmend, das Mittelmeer zu überqueren. Letztlich ist es uns durch pure Disziplin und vielleicht auch einer Prise Glück gelungen, sämtliche Staatsgrenzen zu passieren und das Video an den Augen der Kontrolleure vorbei bis nach Deutschland zu schmuggeln.
Und diese Arbeit hat sich gelohnt! Es ist wunderbar geworden und wir sind begeistert vom Talent des jungen Mannes und seiner künstlerischen Kreativität.„
„Keine Chance“ läßt bewußt sehr viel Interpretationsspielraum. Abschied, Loslassen, Sterben. Ob vom Leben oder von einer Situation, die aussichtslos erscheint und die man dann abhakt – das bleibt dem Hörer überlassen. Ein sehr intensiver Powerblues.
„In Filmen“ ist die erste, Ende letzten Mai erschienene Single der Wohnzimmertouristen. Und auch hier wird den Klischees, wie jemand zu sein hat, die lange Nase gezeigt. Momentaufnahmen einer jungen heranwachsenden Frau, die einfach nicht so ist, wie es von ihr erwartet wird.
„Zeitenwende“ ist ein weiteres klares Plädoyer für die Menschlichkeit, gegen Haß, Hetze und Ausgrenzung, die damit einhergehende Verunsicherung und die seltsamen Zeiten, in denen wir gerade leben.
„Wir“, das abschließende Stück, zitiert querbeet haufenweise Liebespaare der Neuzeit und der Popkultur und verweist damit dezent auf die nicht nur kreative Zusammenarbeit des harten Kerns der Wohnzimmertouristen, nämlich Marina und Benedikt Held. Ein akustisches Gänsehautstück.
Stimmliche Parallelen zu Legende Julia Neigel drängen sich automatisch auf, wenn man Marina Held kraftvoll im Klargesang, gurrend, flüsternd, schreiend, in den Höhen und Tiefen des Blues und des Souls, vor dem inneren Auge in einem Gospelchor die Kirche zum Erbeben bringend, hört – sie braucht keinen internationalen Vergleich zu scheuen.
Selbstverständlich fallen die anderen beteiligten Musiker nicht ab – Ben Held am Baß, Gitarre, Piano und Moog, Thierry Legroux am Schlagzeug, zusätzliche Gitarren von Michael Wagner, zusätzliches Piano von Arne Grasmück, Trompete/Saxophon von Alvin Davis, Etienne Kraffert an den Percussions, Michael „Kosho“ Koschorreck mit der Akustikgitarre, Drums mit Stefan Swoboda, Lukas Schönsgibl an der E-Gitarre und Phillip Schröter am Piano.
Diesem Album hört man an, daß es mit Zeit und Liebe produziert worden ist und nicht auf Quoten schielt. Die „Leopardenhose“ wächst mit jedem Durchlauf und gewinnt an Größe. Den Wohnzimmertouristen ist aktuell eine zeitnahe Promo-Tour aus den leider hinlänglich bekannten Gründen – der globalen Corona-Krise – nicht vergönnt, aber ihr könnt euch schon einmal warm hören.
Das Album könnt ihr euch bei den üblichen Verdächtigen downloaden oder haptisch als Hardcopy direkt bei den Wohnzimmertouristen über https://www.wohnzimmertouristen.de/ bestellen; über die Website gibt es auch Merch-Artikel.